REUTLINGEN. Auf Deutschlands Dächern gedeiht die Energiewende. Auch im Verbreitungsgebiet der Reutlinger Fair-Netz ist bereits jedes fünfte Hausdach mit einer Photovoltaikanlage (PV) ausgestattet: Rund 11.700 Anlagen speisen Strom ins Netz des Unternehmens ein. Doch der Boom hat eine unerwünschte Folge: Er bringt das Stromnetz zunehmend an seine Grenzen. Und so verkündet die Reutlinger Fair-Netz dieser Tage in einer Pressemitteilung, dass »in einzelnen Gebieten derzeit keine neue Einspeisung mehr möglich ist, ohne die Netzstabilität zu gefährden«.
Um Investitionen in PV-Anlagen nicht »auszubremsen«, bietet die Fair-Netz Einspeisewilligen als Interimslösung die sogenannte Nulleinspeisung an. Damit sollen den Kunden Bau und Betrieb ihrer Anlage für den Eigenverbrauch ermöglicht werden, auch wenn zunächst noch keine Einspeisung ins öffentliche Netz genehmigt wird. Sobald die nötigen Netzausbaumaßnahmen abgeschlossen sind, werde die Genehmigung dann nachträglich erteilt.
Wann dies jedoch sein wird, lässt das Unternehmen auf GEA-Nachfrage offen, versichert aber, dass besonders betroffene Gebiete bereits heute beim Ausbau »priorisiert« behandelt würden – damit die Einspeisung möglichst bald freigegeben werden könne.
Photovoltaik gewinnt an Bedeutung
Im Jahr 2024 wurden laut Statistischem Bundesamt in Deutschland bundesweit 431,5 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt und ins Netz eingespeist. Mit einem Anteil von 59,4 Prozent stammte der Strom mehrheitlich aus erneuerbaren Energiequellen (2023: 56 Prozent). Der Anteil der inländisch produzierten Windkraft lag 2024 bei 31,5 Prozent. 13,8 Prozent Anteil betrug die Stromeinspeisung aus Photovoltaik – was gegenüber dem Vorjahr einen Zuwachs um gut 10 Prozent bedeutet. Im Schnitt verbraucht ein deutscher Haushalt jährlich etwa 3.000 bis 4.000 kWh Strom. Die Privathaushalte haben laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) einen Anteil von 26 Prozent am Stromverbrauch, wobei Haushaltsgeräte, Heizung und Unterhaltungselektronik die Hauptverbraucher sind. Mit 45 Prozent ist die Industrie Spitzenstromverbraucher. Es folgt der Sektor Gewerbe, Handel und Dienstleistungen mit 27 Prozent. (GEA)
Welche Reutlinger Stadtteile und Gemeinden im Netzgebiet konkret betroffen sind, auch darüber lässt sich die Fair-Netz auf Nachfrage nicht aus. Dies hänge vom jeweiligen Netzbereich ab und davon, wie sehr dieser bereits belastet sei.
Neue Transformatoren, neue Ortsnetzstationen, neue Leitungen müssten gebaut und verlegt werden. Der Ausbau werde jedoch verlangsamt durch aufwändige Planungs- und Genehmigungsverfahren, knappe Ressourcen an Fachkräften und Material sowie eine bislang ungenügende Finanzierungsperspektive, schreibt die Unternehmenskommunikation. Bereits seit Herbst 2024 erhalten Kunden in betroffenen Gebieten die unerfreuliche Nachricht. Insgesamt 300 Kunden müssten sich aktuell mit der Nulleinspeiselösung zufriedengeben.
Wer böse Überraschungen vermeiden möchte, sollte die Einspeisezusage vorm Anlagenbau einholen. Vorab können Interessierte die schnelle Anfragemöglichkeit im Internet nutzen, die die Fair-Netz eigens eingeführt hat. Nach dieser Erstinformation kann dann die verbindliche Anfrage gestellt werden. Viele Kunden meldeten jedoch aus Unwissenheit ihre PV-Anlagen erst nach der Installation beim Netzbetreiber an, so die Erfahrung der Fair-Netz.
»Besonders betroffene Gebiete werden beim Ausbau priorisiert behandelt«
Nicht betroffen seien Balkon-Anlagen, die nicht vom Netzbetreiber genehmigt werden müssen und nur im Marktstammdatenregister, dem zentrales Register der Bundesnetzagentur, anzumelden sind. Nulleinspeisungen werden nach Fair-Netz-Angabe auch nicht rückwirkend für bestehende Anlagen vergeben.
Die goldenen Jahre sind vorbei. Reich wird heutzutage keiner mehr mit der Vergütung des Stromes von seinem Hausdach (für Teileinspeisung aus Anlagen bis 10 kWp gibt es gut 7 Cent/kWh). Viele lassen sich gleich einen Stromspeicher mitinstallieren und können so den Großteil des produzierten Stromes selbst verwerten.
Ansonsten regelt der Wechselrichter die Leistung der Photovoltaikanlage herunter – das Energiegewinnungspotenzial verpufft. Wie trotz Wind stillstehende Windräder will auch die Nulleinspeiselösung nicht so recht passen zu den ambitionierten Zielen der Energiewender – auch nicht zur PV-Pflicht, die in Baden-Württemberg seit 2022 bei Neubauten oder grundlegenden Dachsanierung (seit 2023) greift. Doch die Fair-Netz führt aus, dass, um die gesetzlichen Vorgaben umsetzen zu können, zunächst zwingend die notwendigen technischen Voraussetzungen geschaffen werden müssten. Gleichzeitig müsse das Unternehmen zu jeder Zeit Netzstabilität gewährleisten. Hierfür seien die temporären Einspeisebegrenzungen »unabdingbar«.
Denn, so erinnert Fair-Netz-Geschäftsführer Thorsten Jansing: Das Stromnetz sei für eine zentrale Stromversorgung durch Großkraftwerke konzipiert – und nicht für Zehntausende Erzeuger, die zur gleichen Zeit Strom einspeisen möchten. Der Wandel vom reinen Verbrauchsnetz zum dezentralen Erzeugungsnetz vollziehe sich derweil schneller als es in bisherigen Prognosen vorhersehbar gewesen sei. Inzwischen übersteige die installierte Einspeiseleistung rein rechnerisch bereits die Spitzenlast des Netzgebiets. An besonders sonnenreichen Tagen mit gleichzeitig geringem Verbrauch (Solarspitzen) erzeugten Solaranlagen zeitweise mehr Strom als das Netz aufnehmen oder sinnvoll weiterleiten könne.
»Das Stromnetz ist für eine zentrale Stromversorgung durch Großkraftwerke konzipiert «
Die Fair-Netz steht mit diesem Thema nicht allein. Die Ausprägung des Problems ist jedoch unterschiedlich. Die Nachfrage in Tübingen ergibt beispielsweise, dass die dortigen Stadtwerke (SWT) in ihrem Netzgebiet bisher nur in »Einzelfällen die Einspeisung von PV-Anlagen temporär untersagen«.
Vorteil der Nachbarn: Das Netz der Tübinger Stadtwerke sei ein größtenteils städtisch geprägtes. Probleme entstünden häufig zuerst im eher ländlichen Bereich. Auch die SWT arbeiteten kontinuierlich an Ausbau und Ertüchtigung der bestehenden Infrastruktur. Kunden erhielten dort bei Anfragen oder Problemen »eine grobe Einschätzung«, wie lange der Netzausbau dauert. (GEA)

