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So kommt die rollende Reutlinger Praxis der AWO an

Ein Vormittag im »Medmobil« der Arbeiterwohlfahrt in Reutlingen: »Danke schön, Herr Doktor!« Hier bekommen sie mehr als Erste Hilfe.

Gute Stimmung im umgebauten Rettungswagen, in dem sich die »Basics« für eine medizinsche Grundversorgung finden: Kurt Gugel und
Gute Stimmung im umgebauten Rettungswagen, in dem sich die »Basics« für eine medizinsche Grundversorgung finden: Kurt Gugel und Wilfried Müller versorgen einen Patienten mit offener Wunde. Foto: Steffen Schanz
Gute Stimmung im umgebauten Rettungswagen, in dem sich die »Basics« für eine medizinsche Grundversorgung finden: Kurt Gugel und Wilfried Müller versorgen einen Patienten mit offener Wunde.
Foto: Steffen Schanz

REUTLINGEN. Monatsende, es ist Auszahltag bei den Fachberatungsstellen der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Klienten kommen, Klienten gehen. Vor dem Eingang steht ein Rettungswagen. Und Heike Hein, Leiterin der Wohnungsnotfallhilfe. »Kennen Sie unser Medmobil? Haben Sie’s auf dem Schirm?«, spricht sie jeden an. Die meisten nicken. Es hat sich bei der Zielgruppe rumgesprochen, dass es bei der AWO seit Neuestem eine rollende Arztpraxis gibt. Wo sie einfach reingehen können, wo sie kostenlos medizinisch versorgt werden, wo man ihnen zuhört, sie ernst nimmt. Heute macht der umgebaute Rettungswagen in der Rommelsbacherstraße 1 Station. Mit an Bord ist Heike Hein als AWO-Fachkraft, Kurt Gugel, Arzt im Ruhestand, und Wilfried Müller, ebenfalls Ruheständler und vorher DRK-Rettungsdienstleiter. Das Trio muss nicht lange auf »Kundschaft« warten.

»Die meisten wollen nicht in Wartezimmer«

"Der Gedanke ist, das Medmobil bekannt zu machen", erklärt Heike Hein. Mitte März ist es an den Start gegangen. Notübernachtungsstelle Glaserstraße, Nikolaiplatz, demnächst Listplatz: Es macht an Orten Station, wo die Chancen gut stehen, von den Wohnungslosen bemerkt zu werden. Viele bräuchten zwar dringend einen Arzt, aber sie gehen nicht hin. Manche haben keine Krankenversicherung, aber es gibt auch andere Gründe. »Die meisten wollen nicht in Wartezimmer«, sagt Kurt Gugel, der 32 Jahre lang eine Hausarztpraxis im Storlach hatte. Weil sie angestarrt werden, der Arzt sie von oben herab behandelt ("duschen Sie erst mal") oder sie ihn nicht verstehen. "Das sind", weiß er aus seiner Praxis, "oft besondere Menschen. Und man braucht für sie einfach mehr Zeit." Als Medmobil-Arzt hat er diese Zeit. "Das ist das Schöne daran, ich kann mit jedem eine halbe Stunde schwätzen, ohne dass sich das Wartezimmer füllt."

»Es geht trotzdem weiter. Aufgeben ist nicht«

Der erste Patient kommt gezielt aufs Medmobil zu. Ein juckender Ausschlag am Arm plagt ihn. Der Hausarzt, berichtet er, hat ihm ein Antiallergikum verschrieben. »Aber es hilft nicht, das kommt immer wieder.« Kurt Gugel lässt ihn im Medmobil Platz nehmen. Der Mann krempelt den Ärmel hoch, scherzt. »Ich hoffe, dass ich es überlebe.« Er fängt an, zu erzählen. Dass es schon lange wohnungslos ist. »Die Trennung«, nennt er den Grund. Jahrelang hat er auf der Straße gelebt. Und sagt heute: »Es geht trotzdem weiter. Aufgeben ist nicht.« Mithilfe der AWO, die ihn übers ambulant betreute Wohnen begleitet, hat er inzwischen eine Bleibe gefunden. »Jetzt bin ich zufrieden.« Und mit 66 Jahren habe er doch schon ein gutes Alter erreicht. »Andere sind schon lange nicht mehr da, die waren alle jünger als ich«, sagt er und zählt Namen auf.

Medmobil im Einsatz: Mediziner Kurt Gugel berät einen Patienten. Heike Hein von der AWO und Wilfried Müller, DRK-Rettungsdienstl
Medmobil im Einsatz: Mediziner Kurt Gugel berät einen Patienten. Heike Hein von der AWO und Wilfried Müller, DRK-Rettungsdienstleiter im Ruhestand, stehen für Assistenz und Beratung bereit. Foto: Ulrike Glage
Medmobil im Einsatz: Mediziner Kurt Gugel berät einen Patienten. Heike Hein von der AWO und Wilfried Müller, DRK-Rettungsdienstleiter im Ruhestand, stehen für Assistenz und Beratung bereit.
Foto: Ulrike Glage

Kurt Gugel ist mit seiner Untersuchung fertig. »Das sieht nach einem lokalen Geschehen aus. Wenn es eine Allergie wäre, wäre es überall.« Er nimmt einen Block mit AWO-Stempel, schreibt eine kortisonhaltige Salbe auf: Ein Privatrezept – andere darf er nicht ausstellen – für den Patienten, das er in der Apotheke am Tübinger Tor einlösen kann. Die Kosten übernimmt die AWO, die ihr »Straßenpflaster«, wie sie das Medmobil getauft hat, aus Spenden und Stiftungsmitteln finanziert.

»Wir haben mit unserer Idee offene Türen eingerannt. Das war klasse«

Die Initiative kam von Kurt Gugel und Wilfried Müller. »Er ist prädestiniert«, sagt der Rettungsdienstleiter a.D. über den Hausarzt a.D. Eine Praxis im Storlach sei etwas anderes als an der Achalm. »Das ist ein medizinischer Brennpunkt.« Außerdem sei Kurt Gugel bestens vernetzt – wegen seiner kommunalpolitischen Tätigkeit im Gemeinderat, aber auch in Arztkreisen. »Wir haben mit unserer Idee offene Türen eingerannt, das war klasse.« Vier weitere pensionierte Mediziner sind mit im Medmobil-Pool, dazu medizinische Fachkräfte. Alle arbeiten ehrenamtlich.

Der nächste Patient steht schon vor dem Medmobil. An beiden Knien trägt er Orthesen, humpelt. »Arbeitsunfälle«, erklärt er. Die Knie sind operiert. Aber die OP ist schiefgegangen. »Seit 30 Jahren hab‘ ich Probleme, da geht nix mehr.« Wenn er die »Gestelle« sehe, meint Gugel zu den Orthesen, »weiß ich, dass er gut versorgt ist – aber dass er akut Schmerzen hat, sehe ich schon, wenn er reinkommt«. Er tastet die Knie ab, stellt einen entzündeten Schleimbeutel fest. Und erfährt nebenbei, dass der Mann schon lange wohnungs- und arbeitslos ist – »wegen meiner kranken Beine«. Sein derzeitiges »Zuhause«: eine Scheune bei Sirchingen. Fast eine halbe Stunde nimmt sich Kurt Gugel Zeit für seinen Patienten, entlässt ihn mit einem Rezept für ein Schmerzmittel. Der Mann freut sich über die freundliche Behandlung. Und wie. »Danke schön, Herr Doktor. Super geil!«

»Das sind so nette Menschen. Und es kommt viel Positives zurück«

Ein anderer AWO-Klient kommt vorbei – und drückt Heike Hein einen Zehn-Euro-Schein in die Hand. Der ist fürs Medmobil. Er kennt das Projekt aus Essen. Damals wurde ihm »so geholfen«, als es ihm dreckig ging, dass er noch heute dankbar ist »Das sind so nette Menschen«, schaut Kurt Gugel ihm nach, »und es kommt viel Positives zurück«. Manche der Wohnungslosen sind alte Bekannte. Wie sein nächster Patient, der mit seinem Hund zum Medmobil kommt. »Ich war schon in seiner Praxis, als ich klein war«, erzählt der junge Mann. Er hat den Befund einer Radiologie-Praxis dabei, mit dem er nicht viel anfangen kann. Er beschreibt seine Schmerzen, klingt verzweifelt. »Das zieht bis in die Schläfe rein, furchtbar. Ich hab‘ schon alles probiert, aber es wird immer schlimmer.« Der Mediziner geht mit ihm die Diagnose durch, Seite um Seite. Und beruhigt ihn: »Das ist nichts Dramatisches, da braucht es keine OP.«

Gute Stimmung im umgebauten Rettungswagen, in dem sich die »Basics« für eine medizinsche Grundversorgung finden: Kurt Gugel und
Gute Stimmung im umgebauten Rettungswagen, in dem sich die »Basics« für eine medizinsche Grundversorgung finden: Kurt Gugel und Wilfried Müller versorgen einen Patienten mit offener Wunde. Foto: Steffen Schanz
Gute Stimmung im umgebauten Rettungswagen, in dem sich die »Basics« für eine medizinsche Grundversorgung finden: Kurt Gugel und Wilfried Müller versorgen einen Patienten mit offener Wunde.
Foto: Steffen Schanz

Der nächste Patient hat Sorge wegen seines Blutdrucks. Gugel legt ihm das Messgerät an. Alles im grünen Bereich. Noch ein Schwätzchen, dann kommt schon der Nächste aus der AWO-Fachberatungsstelle in Richtung Medmobil. Blass, Schweiß auf der Stirn. Gugel bittet ihn in den Rettungswagen. Er hört ihn ab, stellt fest, dass die Lunge rasselt, dazu eitriger Ausfluss. »Stirnhöhlenentzündung«, diagnostiziert er und stellt dem Mann ein Antibiotika-Rezept aus. Der strahlt. »Ich liebe die AWO.«

»Die meisten haben ein ganz komplexes Päckchen zu tragen.«

Noch eine offene, schon infizierte Wunde versorgen Gugel und Müller, dann sind die zwei Stunden fast rum. Da taucht noch ein junger Mann auf, gut gekleidet, freundlich, aber die Augen irgendwie traurig. Kurt Gugel unterhält sich lang und leise mit ihm. »Psychische Probleme«, sagt er, als der Mann gegangen ist. Damit hat es das Medmobil-Team relativ oft zu tun. »Psycho-Sachen kann ich nicht lösen«, sagt Gugel, »aber es tut den Menschen gut, wenn sie darüber sprechen.« Die zunehmende Zahl psychisch angeschlagener Klienten fordert auch die AWO tagtäglich, sagt Heike Hein. Beziehungsweise überfordert, weil sie nicht die Hilfen bieten kann, die es in Spezialeinrichtungen gibt, um die die Betroffenen aber einen Riesen-Bogen machen. »Die meisten«, berichtet sie, »haben ein ganz komplexes Päckchen zu tragen«. Sie landeten bei der AWO, weil sie aus dem Hilfesystem rausgefallen seien. »Und nach uns kommt nicht mehr.« (GEA)

Kurt Gugel nimmt sich viel Zeit für seine Patienten.
Kurt Gugel nimmt sich viel Zeit für seine Patienten. Foto: Ulrike Glage
Kurt Gugel nimmt sich viel Zeit für seine Patienten.
Foto: Ulrike Glage

Laugenherzen fürs Medmobil

Das Medmobil der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Reutlingen bietet eine niederschwellige medizinische Versorgung für Menschen, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Das Projekt wird ausschließlich über Spenden finanziert. Wer es unterstützen will, kann dies ganz einfach tun - und hat auch noch einen leckeren Gegenwert: Die Bäckerei Berger verkauft im Mai und Juni eigens kreierte Laugenherzen, pro Stück gehen 20 Cent ans Medmobil. Die AWO freut sich immer auch über Geldspenden (IBAN: DE23 6405 0000 0000 0625 43 – KSK Reutlingen). (GEA)