Seit sie und ihr Mann Andreas sich bereit erklärten, im GEA über ihren - auf vier Wochen begrenzten - Alltag mit Hartz IV zu berichten, werden sie zwar häufig angesprochen, aber eher mit dem Tenor, das sei in Wahrheit alles noch viel schlimmer, als man es mit so einer Fastenaktion je erfassen könne. Was den beiden ja bewusst ist. Andreas Eisenhardt zählt mittlerweile die Tage bis zum Ende der Aktion. Sich auszumalen, das ginge jetzt das ganze Jahr so weiter, und danach vielleicht noch ein Jahr und noch eines, findet er schrecklich.
»Die Kinder waren noch so klein, da wollte ich nicht voll arbeiten«Noch schlimmer die Vorstellung, sich nicht nur bei der Ernährung beschränken zu müssen, sondern dauerhaft auf Kultur und Urlaub zu verzichten oder gar das Eigenheim gegen eine Mietwohnung einzutauschen. Dabei haben die beiden schon Zeiten erlebt, in denen vor allem Gabriele Eisenhardt um das Auskommen der Familie bangte: Vor zehn Jahren, als ihr Mann seine Stelle im öffentlichen Dienst aufgab, um sich selbstständig zu machen.
Bis er als freiberuflicher Sozialdienstleister fest im Sattel saß, lebten sie von ihrem Teilzeitgehalt. »Es war nicht wirklich bedrohlich, denn ich hätte jederzeit aufstocken können«, erzählt sie. »Aber die Kinder waren noch so klein, da wollte ich nicht voll arbeiten.«
Aus Sorge um Sohn Niko* kommen auch für Ute M.* etliche der ohnehin dünn gesäten Jobs nicht in Frage. Niko ist dreizehn und pubertiert derzeit heftig. »Den kann ich nicht bis spätabends allein lassen, um irgendwo zu schichten«, erklärt sie. Argwöhnisch beäugt die Fünfzigjährige Nikos Umgang und besteht darauf, dass »das Bürschchen« abends um neun im Bett liegt. Die Verantwortung für den Sohn trägt sie allein.
Ute M. ist zweifach geschieden. Von beiden Männern hat sie noch nie einen Cent Unterhalt gesehen, im Gegenteil: Sie ließen sie auf einem Berg Schulden sitzen, als die Ehen in die Brüche gingen. Ratenkäufe, Miet-, Strom-, Telefonkosten, mehrere Tausend Euro insgesamt. In schöner Regelmäßigkeit ist der Gerichtsvollzieher bei ihr zu Besuch, nur um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. »Ein freundlicher Mann«, sagt sie; angenehm sind ihr seine Besuche trotzdem nicht.
Vor drei Jahren kam eine Kontopfändung hinzu. Seither muss sie ihr Arbeitslosengeld II und das Kindergeld direkt nach dem Zahlungseingang vom Konto abheben, sonst wird auch das gepfändet. Im Gegensatz zu den Eisenhardts musste sich Ute M. schon oft hässliche Sprüche anhören. Der vom »Schmarotzergeld«, von dem sie lebe, ist noch einer der harmlosen.
Der Ausgangspunkt ihres Elends liegt viele Jahre zurück. Achtzehn war sie, als sie ihren ersten Mann kennenlernte, die Lehre als Einzelhandelskauffrau abbrach und Hausfrau wurde. »So jung hat man keinen Verstand«, seufzt sie heute. Damals entsprach das den gängigen Vorstellungen in ihren Kreisen: »Mein Mann verdiente gut, da konnte ich zu Hause bleiben.« Nebenbei ging sie putzen, was ihr ein zusätzliches Taschengeld, aber keine Rentenansprüche einbrachte. Als sie 26 war, kam Lena* zur Welt, das älteste ihrer drei Kinder. Bald darauf wurde Jan* geboren, nur ein Jahr später folgte die Trennung.
»Da ging der Ärger los«, sagt sie. Mit zwei kleinen Kindern fand sie keine Arbeit, war das erste Mal auf Sozialhilfe angewiesen - fünf Jahre lang, bis zur zweiten Heirat. Als Niko, ihr Jüngster, drei war, zerbrach auch diese Ehe. Da war Ute M. vierzig, hatte noch mehr Schulden, lebte wieder von Sozialhilfe. Befristete Stellen, Ein-Euro-Jobs, Aushilfstätigkeiten und Krankheitszeiten wechselten sich ab. Mit 43 beantragte sie beim Arbeitsamt eine Umschulung und wurde abgewiesen. So alt und nur Hauptschulabschluss? Da sei es fraglich, ob sie den Anforderungen gewachsen sei.
Vor drei Jahren schließlich hielt das Amt sie an, einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente zu stellen. »Mit 47? Die lachen mich ja aus«, sagte sie damals, tat aber, wie geheißen - und wurde ausgelacht. Alle paar Wochen bestellt ihre Beraterin beim Jobcenter sie ein, und Ute M. weist nach, wo sie sich überall beworben hat. Das Spiel ist immer dasselbe: »In meinem Alter, mit Kind, ohne Auto? Keine Chance.«
Nun möchte sie Privatinsolvenz beantragen, doch dazu muss sie erst ihre Schulden beim Jobcenter abstottern. Das hat ihr vor Monaten irrtümlich 300 Euro zu viel überwiesen, die Ute M. in 20-Euro-Raten zurückzahlen muss. »Im September bin ich fertig, dann kann ich den Antrag auf Privatinsolvenz stellen.«
»Man hätte gleich eine Lautsprecherdurchsage machen können«Was das bedeutet? Für Ute M. keine große Veränderung. Sechs Jahre lang muss sie belegen, dass sie sich ernsthaft um Arbeit bemüht; doch das tut sie ohnehin seit Jahren. Alle Einnahmen über einer Freigrenze von rund 1 300 Euro werden gepfändet; doch so hohe Einnahmen hat Ute M. noch nie gehabt. Nach sechs Jahren »Wohlverhaltensphase« werden ihr die alten Schulden erlassen und sie darf auch Einnahmen oberhalb der Freigrenze behalten. Theoretisch. Denn als ungelernte Hilfskraft wird sie selbst in Vollzeit nie so viel verdienen.
»700 oder 800 Euro, mehr gibt es nicht«, weiß sie. Und trotzdem: Fürs Selbstwertgefühl macht es einen Unterschied, denn es erspart ihr Szenen wie neulich am Bankschalter. Als Ute M. ihren Monatsetat abheben wollte, wies man sie darauf hin, dass sie das auch am Geldautomaten tun könne. »Das geht nicht«, antwortete sie leise. »Wieso?«, fragte die Bankangestellte hilfsbereit zurück. »Tut ihre Karte nicht?« Da blieb Ute M. keine andere Wahl. »Ich habe eine Kontopfändung«, erklärte sie, ungeachtet der Schlange hinter ihr. Bitter erzählt sie die Begebenheit und fügt hinzu: »Man hätte auch gleich eine Lautsprecherdurchsage machen können.« (GEA)