REUTLINGEN. Im Februar 2022 begann der russische Angriff auf die Ukraine. Die Reutlinger Hilfsorganisation »Drei Musketiere« ist von Anfang an vor Ort, um die Menschen im kriegsgebeutelten Land mit dem Notwendigsten zu unterstützen. So intensiv und kräftezehrend wie in diesem Jahr war ihre humanitäre Arbeit aber noch nie. Die russische Armee rückt näher und näher. Keine Nacht ohne Einschläge, kein Tag ohne Drohnenangriffe, zerstörte Infrastruktur überall in den umkämpften Gebieten. Vereinsvorsitzender Markus Brandstetter geht mit den Musketieren so nah dran wie kaum eine andere Hilfsorganisation. Und sagt: »Da ist Krieg. Richtig Krieg. Man sieht es, man spürt es.« Was außerdem zu spüren sei: zunehmende Erschöpftheit. Bei der Zivilbevölkerung, beim Militär – und bei den Helfern selbst.
Kleineres Helferteam
Der Einsatz der kleinen Reutlinger Hilfsorganisation ist nicht nur wegen des immer heftigeren Kriegsgeschehens deutlich schwieriger geworden. Ein herber Einschnitt bedeutete für sie das im Mai erlassene Mobilisierungsgesetz. Unter anderem setzte die Regierung das Reservistenalter von 27 auf 25 Jahre herab und schränkte Ausnahmeregelungen für Ukrainer, die im humanitären Bereich arbeiten, ein. Die Folge: Der Projektkoordinator der »Musketiere«, ein junger Ukrainer, kann seither nur noch von Polen aus agieren. Und es musste eine neue, funktionierende Helfergruppe aufgebaut werden – ein Kraftakt, sagt Brandstetter. »Die einen haben Angst, andere können nicht, wollen nicht.« Das Team ist seit Mai kleiner geworden. Der Reutlinger kompensiert das mit eigenen Einsätzen im Zwei-Monats-Takt.
Gefährliche Routen
Die Musketiere sind nach wie vor in den Regionen im Osten und Süden der Ukraine aktiv. Durch das, so Brandstetter, »stetige Vorwärtsdrücken« der russischen Armee ist es für die Helfer aber problematisch geworden, ihre Ziele zu erreichen. Dörfer, Straßen, Städte: Plötzlich ist kein Durchkommen mehr für das Team, weil es schlicht zu gefährlich ist oder weil es sich um aktives Kampfgebiet handelt, das von der ukrainischen Armee abgesperrt ist. Dazu kommen immer aufwendigere Genehmigungsverfahren. Sogar die Tagesrouten müssen die Helfer vorab an die Militäradministration kommunizieren, um die notwendigen Papiere zu bekommen.
30 Einschläge an einem Morgen
Und noch etwas hat sich verändert. »Der Beschuss hat brutal zugenommen.« Was früher eher eine Ausnahme gewesen sei, so Markus Brandstetter, passiere heute täglich. »Das ist dann nicht nur eine Detonation, das sind mehrere. Und diese Raketen und Drohnenschwärme fliegen die ganze Nacht.« In Cherson habe er bei der Lebensmittel-Verteilung an einem Morgen 30 Einschläge gezählt. Cherson gleiche mittlerweile einer Geisterstadt. Manche sagten, dass es Teil der russischen Strategie sei, die Stadt unbewohnbar zu machen, erzählt der Reutlinger. »Und das findet auch dadurch statt, dass Jagd auf die Zivilbevölkerung mit Drohnen gemacht wird.« Über 70 Todesopfer habe es in den letzten zwei, drei Monaten gegeben.
Das alles auszuhalten – schwierig für die Menschen. »Das zehrt. Auch an uns«, meint der Musketier-Vorsitzende. Aufgeben ist für ihn und seine Mitstreiter aber keine Option. Ganz im Gegenteil. Neben der gut funktionierenden Verpflegungsstation und Suppenküche in Charkiw sowie der Notversorgung der zurückgebliebenen Menschen in den Orten im Süden und Osten des Landes gibt es ein neues Musketier-Projekt. Mithilfe von Fördergeldern und Spenden beschaffte der Verein zwei Doppelcontainer, die als Arztpraxen ausgestattet werden. Das Personal rekrutieren die Behörden. Die medizinische Versorgung entlang der Frontlinie zu gewährleisten – eine besondere Verantwortung, sagt Markus Brandstetter. Denn in einem Notfall oder zu Untersuchungen mal eben zum Arzt oder ins Krankenhaus zu fahren, funktioniere nicht in Gebieten, in denen Straßen unpassierbar sind und Hospitäler beschossen würden.
Unterstützung für Waisenkinder
Seit August unterstützt die Reutlinger Hilfsorganisation außerdem 72 in ukrainischen Pflegefamilien untergebrachte Waisenkinder. »Es gibt zwar staatliche Unterstützung, aber die reicht nicht aus, um die Kinder adäquat durchzubringen«, nennt Markus Brandstetter den Grund. Die Musketiere helfen mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und demnächst auch mit kleinen Nikolausgeschenken. Bei ihren Besuchen treffen sie auf liebevolle Pflegeeltern. Und Kinder, die schwer traumatisiert sind. Schweigsam, zurückhaltend. Bis Vertrauen aufgebaut ist, dauert es. Kein Wunder. »Sie haben Schreckliches erlebt.« Es beispielsweise über Monate in Kellern ausgehalten. Bomben gehört, die auf Häuser fallen. »Wenn es donnert, schreien sie und springen unter den Tisch.« Kinder, sagt Markus Brandstetter, sind die Schwächsten, sind besonders schützenswert. »Die können einfach so gar nichts dafür. Da haben wir eine tiefergreifende Verantwortung.« Krieg tötet Unschuldige, mindestens 11.743 zivile Opfer sind es in der Ukraine laut einer Schätzung des UN-Menschenrechtsrates bisher. Krieg zerstört aber auch Seelen. »Es dauert Generationen, bis das Land wieder geheilt ist«, meint der Reutlinger.
Spendenaufkommen geht zurück
Auch wenn die Bedingungen schwieriger geworden sind: Markus Brandstetter, seit dieser Woche wieder in der Ukraine, wird mit den Musketieren weitermachen. »Die Ukraine ist völkerrechtswidrig überfallen worden. Ich sehe es als unsere Pflicht, den Menschen beizustehen.« Ganz besonders jetzt, wo der Winter kommt und die Versorgungslage in den Gebieten nahe der Front durch die zerstörte Infrastruktur immer schwieriger wird. Brennholz, Notstromaggregate, Lebensmittel: Die Musketiere unterstützen, wo Bedarf ist. Schnell und situationsbedingt zu reagieren, ist für sie als kleine Einheit organisatorisch relativ einfach. Finanziell ganz und gar nicht. Das Spendenaufkommen und damit das Budget für die Ukraine ist deutlich zurückgegangen, Brandstetter schätzt um etwa 80 Prozent. Deshalb können die Musketiere bei Weitem nicht mehr so viele Hilfsgüter verteilen. »Aber Unterstützung ist jetzt wichtiger denn je. Dort wird es immer weniger.«
Auf Spenden angewiesen
Der Reutlinger Hilfsverein »Drei Musketiere« finanziert seine Einsätze ausschließlich über Spenden. Wer die Arbeit unterstützen will, kann das über folgendes Konto tun: Drei Musketiere Reutlingen e. V., KSK Reutlingen, IBAN: DE97 6405 0000 0100 1027 43, BIC: SOLADES1REU. (GEA)
Unterstützung wäre auch von politischer Seite willkommen, meint Markus Brandstetter. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ fördert kommunale Partnerschaften mit Städten im Osten. Reutlingen, so seine Idee, könnte doch eine Partnerschaft mit einer Stadt in den »kriegsgebeutelten« Regionen der Ukraine schließen, vielleicht sogar in Kooperation mit dem Klinikum. »Das wäre doch etwas Tolles.« (GEA)