REUTLINGEN/MÜNSINGEN. Es muss vor etwas über einem Monat gewesen sein, als eine werdende Enten-Mama ihr Nest im Gebüsch eines Münsinger Vorgarten gebaut hatte. Der ungewöhnliche Brutplatz - so nah am Menschen - erregte schon bald die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft. Dann, kurz nachdem die Jungtiere geschlüpft waren, meldeten sich besorgte Anwohner beim Reutlinger Tierheim, weil die Ente mit ihren vier Küken im Schlepptau orientierungslos über die Grundstücke irrte. Nur vier Küken? Schnell wussten Christina Wahl und ihre Kollegin, dass da etwas nicht stimmen konnte.
»Das kam uns direkt seltsam vor. Normalerweise bringt ein Gelege acht bis zwölf Küken hervor«, erklärt die angehende Tierpflegerin Wahl dem GEA. »Vielleicht war da schon ein Fuchs, Marder oder eine Katze am Werk, oder die Jungtiere wurden zurückgelassen. Auf jeden Fall hieß das für uns: Gefahr im Verzug.« Schnell waren Kescher und Transportboxen eingepackt und die zwei Frauen fuhren nach Münsingen auf Rettungsmission.
Schutzsuchend in einer Ecke ausgeharrt
Die Hilfsbedürftigen waren fix gefunden: »Als wir ankamen, saßen die Küken in einer Hausecke«, erinnert sich Wahl. »Quietschfidel«, aber »gestresst« seien sie gewesen, hätten nach ihrer Mama gerufen, die weggeflogen war. Trotz einiger Fluchtversuche wurden die Küken zügig eingefangen. Leicht war das nicht: »Die sind nicht so langsam wie Igel oder Schildkröten«, weiß die angehende Tierpflegerin und lacht.
»Dann haben wir Quiekgeräusche gehört, die wir erstmal nicht lokalisieren konnten«, sagt Wahl. Bei der Suche nach der Geräuschquelle seien die beiden Frauen dann auf einen Gulli aufmerksam geworden, eine potenzielle Todesfalle für Entenküken. Ohne menschliche Hilfe kamen die frisch Geschlüpften nicht mehr hinaus und drohen bei Regen zu ertrinken. Herzerweichendes Quietschen klang aus dem Untergrund, weil genau dort drei weitere Tiere festsaßen.
Mit »geballter Frauenkraft« wurde kurzerhand der Gullideckel angehoben und die drei Geschwisterchen gerettet. »Die Küken waren vielleicht erst ein oder zwei Tage alt«, erzählt Wahl. Sie konnten nicht in Münsingen bleiben: »Das Blöde ist: hier sind keine Gewässer in der Nähe, nur Miniteiche oder Pools.« Wieso Mama-Ente ausgerechnet einen Brutplatz mitten in einem Münsinger Wohnbezirk gewählt habe? Darauf hatte Wahl keine Antwort. »Aber ohne Gewässer lernen die kleinen Küken nicht, wie sie in der freien Wildbahn schwimmen und Nahrung finden können«, weiß die Tierpflegerin. Außerdem sei ein Marsch zu einem passenden Fluss oder See viel zu weit.
Ein ausgeklügeltes Manöver
Also arbeiteten die Frauen einen Plan aus: Die Mutter anlocken und sie zusammen mit ihrem Nachwuchs an einen nahegelegenen See oder Fluss bringen. Wahl und ihre Kollegin setzten die mittlerweile wiedervereinte Geschwisterschaft in einer Transportbox im Auto ab, in der Hoffnung, die Mutter ließe sich von den Rufen der Jungtiere ins Gefährt locken. Dann: Tür zu und Abfahrt. So zumindest der Plan.
Zwar kam die Enten-Mama angeflogen, aber ihr Wildtierinstinkt war wohl stärker als der Mutterinstinkt - ins Auto traute sie sich trotz quiekender Küken nicht. Selbst eine Wiederholung des Manövers auf den Feldern in der Nähe ging ins Leere: Bis auf zwei Meter näherte sich die Ente, roch dann aber wohl den Braten und ward seitdem nicht mehr gesehen.
»Wir hätten bei der Lauter nach einer geeigneten Stelle für die Entenfamilie gesucht«, so Wahl. Aber unter diesen Umständen habe man die Aktion abbrechen müssen. Die Mama, da waren sich die Tierpflegerinnen sicher, würde nicht mehr zurückkommen. Alleine waren die Babys noch nicht überlebensfähig. »Wir haben die Küken dann bei uns im Tierheim notversorgt, untersucht und gefüttert. Dann haben wir sie zum Nabu-Vogelschutzzentrum nach Mössingen gebracht.« Dort könnten die Vögel besser versorgt werden, ehe sie wieder ausgewildert würden.
Das geht bei Enten recht schnell. Die Vögel sind sogenannte Nestflüchter und können bereits kurz nach dem Schlüpfen das Nest verlassen. Nach ein paar Wochen sind sie dann schon in der Lage, selbstständig in der Wildnis zu überleben - vorausgesetzt, ihnen wird beigebracht, wie das geht. Das macht eigentlich die Mutter.
Diese Aufgabe liegt jetzt bei Jürgen Wuhrer und seinem Team vom Nabu-Vogelschutzzentrum in Mössingen. Rund eineinhalb Stunden pro Tag pflegt er die sieben Küken in einem raubtiersicheren Gehege. »Das nimmt schon Zeit in Anspruch. In sechs bis sieben Wochen sind sie dann soweit«, erklärt Wuhrer mit Blick auf die Auswilderung. Bis dahin bekommen sie täglich frisches Wasser zum Trinken und ein separates Behältnis zum Schwimmen sowie spezielles Wasservogel-Futter. »Das müssen wir zwei- bis dreimal pro Tag nachfüllen«, sagt der Experte. Hungrig seien sie, die Kleinen. Eine etwas ältere Kükengruppe sei zurzeit auch noch da. Die Familien freundeten sich langsam an. »Dann werden vermutlich alle zusammen an die Donau, den Neckar oder an einen nahen See gebracht«, erklärt Wuhrer. »Hauptsache nicht mehr in die Stadt zurück.« (GEA)



