REUTLINGEN. Von mega bis mies, von urkomisch bis unverständlich: Die Plakat-Kampagne mit Anti-Reutlingen-Sprüchen polarisiert. Die einen sind begeistert, die anderen schütteln nur den Kopf. Kalt lässt sie keinen - das merkt man auch an der Umfrage in der Reutlinger Fußgängerzone. Jeder, der sich Zeit genommen hat, um mit dem GEA zu sprechen, diskutierte leidenschaftlich das Für und Wider der Slogans, gab Liebeserklärungen an seine Stadt ab oder betrauerte deren Niedergang.
»Mein erster Gedanke, als ich eines der Plakate gesehen habe, war: Wer kommt auf so eine Schnapsidee?«, sagt Olli Koschmieder, denn inhaltlich seien die Sprüche »teils echt starker Tobak«. Schnell aber sei ihm klar geworden, dass das Ganze wohl eine ausgeklügelte Werbeaktion ist - und diese ist seiner Ansicht nach gelungen. »Die Präsenz auf sämtlichen Social Media-Kanälen war mega, die Dinger gingen viral.« Ihn haben die Sprüche zum Schmunzeln gebracht, obwohl, wie er einräumt, ein großes Korn Wahrheit drinsteckt: »Für mich persönlich ist die Stadt längst nicht mehr so attraktiv wie früher, es gibt viele Leerstände, und das ist traurig, wenn man denkt, woher Reutlingen kommt.«
»Die Präsenz war mega, die Dinger gingen viral«
Eine ähnliche negative Entwicklung der Stadt beobachtet auch Sorin Iordaghescu seit Längerem: »Die Stadt stirbt einfach, die Läden gehen kaputt, in der Metzgerstraße sind nur noch Barbershops und asiatische Supermärkte.« Auf Regionales zu setzen, wie in der Markthalle und nun mit der M 59, der Biosphären-Manufaktur in der Metzgerstraße, das findet er von der Idee her toll. Allerdings ist er skeptisch, ob es funktioniert, denn so manche Initiative sei bisher nicht recht gezündet: »Die Stadt hat so viel Potenzial, aber bringt dann doch nichts hin.« Und die Werbekampagne? »Die finde ich dumm, Reutlingen macht sich selbst schlecht - das Geld hätte man besser investieren können.«
»Das Geld hätte man besser investieren können«
Aber ist tatsächlich alles schlecht? »Ich finde Reutlingen super«, sagt Tobias Gommel im Brustton der Überzeugung. Vor 29 Jahren ist er hergezogen und habe sich auf den ersten Blick total in die Stadt verliebt. »Es ist eine kleine Großstadt, die alles hat, mitsamt Natur, die sie umgibt.« Vorsichtig mischt sich seine Gattin Ana ins Gespräch ein, früher habe sie in Tübingen gelebt, berichtet sie, und dort sei es auch nett gewesen. »Tübingen ist schön und gut«, erwidert ihr Mann, »aber Reutlingen ist echt.« Ana Gommel nickt lachend: »Ja, es stimmt, irgendwann habe ich gelernt, Reutlingen zu lieben.« Die Plakate finden beide übrigens gelungen, selbstironisch und ein bisschen wie die Werbung von »The Länd«, auch diese hat einen Hype ausgelöst, zwar einen Negativ, aber einen Hype und das zähle. »Außerdem hat ein bisschen Humor noch keinem geschadet«, ist Tobias Gommel überzeugt.
» Tübingen ist schön und gut, aber Reutlingen ist echt«
Wobei es mit der Ironie und dem Humor so eine Sache ist. Wer sie nicht versteht oder diese Art von Witz nicht mag, kann mit den Plakaten nichts anfangen. »Ich finde es schrecklich, dass es oft nur noch darum geht, Aufmerksamkeit zu erregen«, sagt Hans-Peter Hauser. »Traurig, dass man nur noch mit solchen Provokationen Schlagzeilen machen kann.« Dabei finden er und seine Frau Ursula Reutlingen immer mal wieder einen Besuch wert: Zum dritten Mal macht das Paar aus dem Raum Freiburg Urlaub in Bad Urach - ein Abstecher in die Kreisstadt gehöre dabei immer zum Ausflugsprogramm. »Wir sind gerne hier.«
»Ich kapiere den Sinn dahinter nicht «
Unterschiedlicher Meinung zur Kampagne sind Bianca Haas und Till Neumann, die gemeinsam durch die Fußgängerzone schlendern. »Ich finde sie seltsam,« sagt Haas, »ich kapiere den Sinn dahinter nicht.« Anders hingegen Neumann: »Die Sprüche sind doch cool und witzig.« Zudem bekomme Reutlingen so Aufmerksamkeit »und jede Art von Aufmerksamkeit ist gut.« Die beiden wohnen in Reutlingen, die Nachbarstadt Tübingen sei aber einfach schöner, sagt Neumann, daher stecke auf jeden Fall in manch einem Slogan ein großes Stück Wahrheit. »Jetzt sind wir gespannt, wie es damit weitergeht«, sagt Bianca Haas. Da dürfte sie nicht die einzige sein. (GEA)