KREIS REUTLINGEN. Der Arbeitsmarkt in Deutschland ächzt nach wie vor unter dem Fachkräftemangel. Viele Branchen stellt dieses drängende Problem vor große Herausforderungen. Gleichzeitig gibt es eine steigende Anzahl fitter älterer Menschen, die auch nach ihrem offiziellen Eintritt in den Ruhestand aktiv bleiben wollen und ihre wertvollen Erfahrungen weiter einbringen möchten. Immer mehr Unternehmen erkennen das Potenzial dieser Generation und nutzen die Chance, Senioren weiter zu beschäftigen. Denn diese Menschen, die sich im Rentenalter und damit im dritten Lebensabschnitt befinden, verfügen nicht nur über umfangreiche Fachkenntnisse, sondern auch über ein hohes Maß an Disziplin und Lebenserfahrung. Der GEA hat mit vier »Unruheständlern« aus der Region über ihre neue Rolle in der Berufswelt von heute gesprochen.
Barbara Mayer liebt Kinder. Nicht nur ihre Tochter oder ihre zwei Enkel. Die pensionierte Oberstudienrätin arbeitet derzeit auf Minijob-Basis als Urlaubs- und Krankheitsvertretung in der Kita »Wilde 13« in Pfullingen. Vor dieser Zeit unterrichtete Mayer, die in den kommenden Tagen ihren 70. Geburtstag feiern wird, fast 30 Jahre lang die Fächer Sport und Englisch an verschiedenen Gymnasien. »Bereits als 10-Jährige wusste ich, dass ich später einmal Sportlehrerin werden möchte«, erzählt sie. Kein Wunder, denn Barbara Mayers große Leidenschaft ist der Sport.
Als aktive Leichtathletin nahm sie mit Erfolg an mehreren nationalen Meisterschaften teil. Diese Begeisterung hält bis heute an. Seit vielen Jahren engagiert sie sich an drei bis vier Nachmittagen pro Woche als Übungsleiterin für die Jugend in Pliezhausen. »Ich muss immer etwas tun. Stillstand ist für mich unvorstellbar«, erklärt die 69-Jährige. Deshalb war die Freude für sie auch groß, als sie das Angebot für den Job in der Pfullinger Kita erhielt. Der Übergang von ihren Schülern zu den Kleinen war nahtlos. Und gebraucht zu werden sei für sie ein großes Geschenk. Doch damit nicht genug. Barbara Mayer hat nach ihrem Eintritt in den Ruhestand vor sechs Jahren für längere Zeit in einem Café gearbeitet sowie für einen privaten Briefzustelldienst die Post ausgetragen. »Das war allerdings ein Knochenjob. Aber ich wollte unbedingt auch einmal etwas ganz anderes ausprobieren«, berichtet die sportliche Seniorin.
»Ich muss immer etwas tun. Stillstand ist für mich unvorstellbar«
Diese beiden Perspektivwechsel bereut sie nicht. Im Gegenteil, Barbara Mayer möchte sogar noch eine Schippe drauflegen. Sie wäre bereit, noch mehr zu arbeiten. »Ich sehe dies als meine gesellschaftliche Aufgabe an. Man bekommt im Leben so viel. Deshalb sollte man, sofern man es kann, auch etwas zurückgeben«, sagt sie. Und so lange es Barbara Mayer gesundheitlich möglich ist, möchte sie dies auch tun.
Vor 36 Jahren hat Alfred Zawadzki großen Mut bewiesen und in Reutlingen seine eigene Praxis gegründet. Mit Stolz kann der promovierte Zahnarzt heute auf sein Lebenswerk blicken. Denn der 66-Jährige betreut über 7.000 Patienten, die sich regelmäßig von ihm behandeln lassen. Zudem gilt er als angesehener Spezialist für Kiefergelenks- und Funktionsdiagnostik. Zawadzki ist in Rumänien aufgewachsen, hat dort Zahnmedizin sowie Malerei und Grafik studiert. »Mit 27 Jahren kam ich hierher und arbeitete einige Zeit als Assistenzarzt in einer Stuttgarter Praxis«, erzählt der Familienvater. Sobald er die für Deutschland erforderliche Approbation in Händen hielt, wagte er den Schritt in die Selbständigkeit.
Zuerst mietete er Räumlichkeiten in der Steinenbergstraße, 2007 zog er mit seiner Praxis in die Markthalle um. Seit 45 Jahre kümmert sich Alfred Zawadzki um seine Patienten. Nun ist es für ihn Zeit, etwas kürzer zu treten. Der Dentist ist froh, mit dem Zahnarzt-Ehepaar Petermann geeignete Nachfolger für seine Praxis gefunden zu haben. Die Übernahme erfolgte Anfang des Jahres. Doch Zawadzki hat Spritze und Bohrer nicht einfach an den Nagel gehängt und tschüss gesagt. Als angestellter Zahnarzt arbeitet er weiterhin an drei Tagen in der Woche bei Petermanns mit.
»Das Wohl meiner Patienten ist mir sehr wichtig«
»Das Wohl meiner Patienten ist mir sehr wichtig. Viele von ihnen erhalten komplexe Behandlungen, die oft mehrere Monate andauern. Diese möchte ich weiterhin betreuen und durch persönliche Einweisung des neuen Zahnarztes einen reibungslosen Übergang schaffen«, erklärt der Fachmann. Außerdem sei er fit und gesund und die Zusammenarbeit mit dem gesamten Praxisteam mache ihm großen Spaß. Noch gut ein Jahr wird Zawadzki der Praxis an drei Wochentagen erhalten bleiben, danach wird er immer bei Bedarf als Vertretungsarzt aushelfen. Und er kann sich dann noch mehr auf sein Hobby – die Malerei konzentrieren. Zahlreiche Bilder an seinem Arbeitsplatz in der Reutlinger Markthalle zeugen von seiner kreativen Leidenschaft.
Wo Brigitte Heckhorn ist, herrsche immer gute Stimmung. Sagt zumindest ihr Chef Hannes Höltzel, Apotheker und Inhaber der Gartenstadt-Apotheke in Reutlingen. Und in der Tat, während die 66-Jährige von sich erzählt, strahlt sie über das ganze Gesicht und ihre Augen blitzen. Doch der Reihe nach. Brigitte Heckhorn ist Pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte (PKA) und arbeitet seit 48 Jahren in der Gartenstadt-Apotheke. Ihr Job ist es, dass die Arzneimittel in der Apotheke nie ausgehen. Sie arbeitet im Backoffice-Bereich, kümmert sich um Bestellungen und den Wareneingang. Vor zwei Jahren begann ihr offizieller Ruhestand. Und diesen ist sie auch angetreten. Doch schnell merkte die agile Seniorin, dass ihr etwas fehlte.
»Es war eine große Umstellung für mich. Mir war schlicht und ergreifend langweilig. Ich bin einfach ein Mensch, der gerne etwas schafft«, berichtet die Mutter eines Sohnes. Aus diesem Grund entschloss sie sich dann auch, ihren ehemaligen Chef anzusprechen. Kurz darauf arbeitete sie wieder an einem Tag pro Woche in der Apotheke, und bei Bedarf hilft sie auch mal länger aus. Hannes Höltzel ist darüber sehr froh. »Brigitte Heckhorn ist durch ihre sympathische Art und ihre Kompetenz wirklich eine Bereicherung für unser Team. Und da wir mit extremer Personalknappheit zu kämpfen haben, bin ich doppelt froh, dass sie wieder an Bord ist«, sagt der Apotheker.
»Es war eine große Umstellung für mich. Mir war schlicht und ergreifend langweilig«
Auch der Ehemann von Brigitte Heckhorn war mit der Entscheidung seiner Frau einverstanden. »Er hat gesagt, dass ich es machen soll, solange es mir gefällt und ich es kann«, berichtet die lebenslustige Frau. Und das hat sie auch vor. Denn den zusätzlichen Nebenverdienst könne sie gut gebrauchen, da ihr Mann aus gesundheitlichen Gründen derzeit nicht arbeiten könne. Doch auch die netten Kollegen und ihr toller Chef hätten den Ausschlag dafür gegeben, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Sie sagt: »Es tut einfach gut, wenn man merkt, dass man gebraucht wird.«
Richard Salewski-Strauß ist fit wie ein Turnschuh. Er wandert, fährt Rad, geht jeden Morgen schwimmen – und arbeitet auch nach seinem Eintritt in den Ruhestand weitere drei Tage pro Woche bei der Firma eggs elektroanlagen in Pliezhausen. Dort werden elektrotechnische Ausrüstungen für Trinkwasserversorgungs- und Abwasserreinigungsanlagen erstellt. »Ich bin froh, dass ich diese Chance erhalten habe, denn mein Job macht mir einfach wahnsinnig viel Spaß«, berichtet der 67-Jährige. Der staatlich geprüfte Elektrotechniker Fachrichtung Nachrichtenelektronik ist seit seinem Wechsel auf Teilzeit im Kundenservice tätig. Davor war er technischer Bereichsleiter. Zu seinen Aufgaben zählten Projektsteuerung, Konstruktionen, Akquise oder Programmierungen. Ein arbeitsintensiver und anstrengender Job.
Heute fährt er bei einem Fehler in der Elektrik von Anlagen raus zu den Kunden, um eine Lösung zu finden und das Problem zu beheben. Viele Kunden kennen Richard Salewski-Strauß schon viele Jahre, schätzen deshalb seine Expertise ganz besonders und freuen sich, wenn er kommt. Und der Software-Spezialist fühlt sich gebraucht. Deshalb musste er auch nicht lange überlegen, als sein Chef ihm diesen gleitenden Übergang in den Ruhestand angeboten hat. »So ein abrupter Wechsel von Hundert auf Null wäre mir sicher schwergefallen. Deshalb konnte ich mir das jetzige Agreement gut vorstellen«, sagt der zweifache Familienvater. Und was meint sein Chef? »Herr Salewski-Strauß ist ein wichtiges Mitglied für die Belegschaft. Er ist ein Vorbild für die jungen Kollegen, die viel von ihm lernen können. Und in Zeiten von Fachkräftemangel sind wir über Mitarbeiter froh, die länger für uns arbeiten möchten«, berichtet Geschäftsführer Alexander Eggs. Finanzielle Aspekte waren nicht der Grund für Richard Salewski-Strauß´ Entscheidung. Er sagt: »Ich arbeite mit einem tollen Team zusammen, fühle mich in der Firma mehr als wohl und liebe es, Kunden zu helfen. Und so lange ich fit und gesund bin, möchte ich dies weiterhin tun.« (GEA)