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Schillerschule: Wo Lob den Tadel fast ersetzt

Preisgekröntes Präventionsprojekt der Schillerschule setzt auf Selbstkontrolle, Achtsamkeit und Meditation

Per Boxsack ordentlich »Dampf ablassen«: Auch das gehört zum Gewaltpräventionskonzept der Schillerschule. FOTOS: PIETH
Per Boxsack ordentlich »Dampf ablassen«: Auch das gehört zum Gewaltpräventionskonzept der Schillerschule. FOTOS: PIETH
Per Boxsack ordentlich »Dampf ablassen«: Auch das gehört zum Gewaltpräventionskonzept der Schillerschule. FOTOS: PIETH

REUTLINGEN. Wenn auf Emres Schreibtisch ein Krönchen steht, ist er der King. Dann hat der Zweitklässler irgendetwas außerordentlich gut gemacht und wurde dafür von seinen Klassenkameraden zum Tageskönig gekürt. Sei’s, dass der Junge besonders hilfsbereit war; sei’s, dass er – obschon von Haus aus eher impulsiv veranlagt – in einer Stresssituation die Ruhe bewahrte: In jedem Falle ist das Krönchen ein für jedermann sichtbares Zeichen der Anerkennung, das seinen Besitzer positiv aus der Gruppe hervorhebt und natürlich sehr stolz macht.

Anders verhielte es sich, wenn Emre einen sogenannten Wunschbrief überreicht bekäme. Denn solche Schreiben erhält nur, wer sich gegenüber Dritten schlecht benimmt. Verfasst werden Wunschbriefe von Opfern verbaler oder tätlicher Übergriffe. Sie sollen ihre Em-pfänger zum Nachdenken bewegen – darüber, wie sie grobes und gröbstes Fehlverhalten künftig vermeiden können. Auf dass in den Klassenzimmern und auf dem Pausenhof der Schillerschule mehr gegenseitiger Respekt Einzug halte, ein besserer Umgangston gepflegt werde und Konflikte seltener eskalieren.

Klingt gewöhnungsbedürftig

Zugegeben: All das klingt gewöhnungsbedürftig. Zumal man eigentlich erwarten würde, dass bei Regelverstößen ausschließlich Lehrer beziehungsweise Schulleiter auf den Plan treten, um Missetäter zu bestrafen. Dass an der Orschel-Hagener Bildungseinrichtung indes auch Grundschüler aktiv werden und sich sozusagen gegenseitig zu Anstand, Wertschätzung und Benimm erziehen – das ist bemerkenswert. Wobei der direkte Dialog zwischen Schlägern und Geschlagenen oder Beleidigern und Beleidigten selbstverständlich pädagogisch begleitet wird: allen voran von Sozialarbeiterin Himali Ihle.

Im Beisein von Sozialarbeiterin Himali Ihle (rechts) und Rektorin Stefanie Hansel (hinten) übergeben sich Schillerschüler sogena
Im Beisein von Sozialarbeiterin Himali Ihle (rechts) und Rektorin Stefanie Hansel (hinten) übergeben sich Schillerschüler sogenannte Lobkärtchen. Sie sind Teil eines breit angelegten Gewaltpräventionskonzeptes, das unlängst ausgezeichnet wurde. Foto: Frank Pieth
Im Beisein von Sozialarbeiterin Himali Ihle (rechts) und Rektorin Stefanie Hansel (hinten) übergeben sich Schillerschüler sogenannte Lobkärtchen. Sie sind Teil eines breit angelegten Gewaltpräventionskonzeptes, das unlängst ausgezeichnet wurde.
Foto: Frank Pieth

Letztere zeichnet federführend, wiewohl in enger Kooperation mit Schillerschul-Rektorin Stefanie Hansel, für ein gewaltpräventives Konzept verantwortlich, das in der Bildungsstätte an der Esslinger Straße bereits feine Erfolge gezeitigt hat und unlängst – wie berichtet – vom Förderverein Kriminal- und Verkehrsprävention mit einem ersten Preis ausgezeichnet wurde. »Eine Idee, die geklaut werden kann«, hatte Landrat und Laudator Thomas Reumann bei der Urkunden-Übergabe gesagt.

Atmen und Innehalten

Jedoch: Lange Finger muss niemand machen, der sich für die auf Achtsamkeits- und Meditationsübungen fußende Aggressions-Eindämmung an der Schillerschule interessiert, in deren Klassenzimmern »immer das Lob im Vordergrund steht und nicht der Tadel«. Himali Ihle und Schulleiterin Hansel geben ihr Konzept nämlich gerne weiter – etwa im Rahmen des nächsten Grundschularbeitskreises, in dem Pädagogen diverser Reutlinger Elementar-Einrichtungen zusammenkommen und sich austauschen.

Zu hören werden sie Vielfältiges bekommen. Da wird die Rede sein von Morgenritualen, bei denen bewusstes Atmen und Innehalten eine tragende Rolle spielt, von Lobkärtchen, die Schüler an Mitschüler weiterreichen, weil diese niemandem »an Körper und Herz wehgetan und niemandem Sachen weggenommen haben«. Da wird es um Stopp-Regeln, Selbstkontrolle und Schulverschönerungsteams gehen, um Elternkontakte, schillerschulinterne pädagogische Tage, die deeskalierende Wirkung von Boxsäcken und um die Verbannung von Schimpfwörtern.

Zündende Idee

Was Letztere betrifft, hat Stefanie Hansel auf Anregung von Himali Ihle unlängst eine für die Schüler offenbar ebenso spektakuläre wie einprägsame Aktion gestartet. Die buchstäblich zündende Idee: »Wir haben alle Kraftausdrücke, die uns einfielen, in eine Papiertüte gesprochen und diese anschließend auf dem Schulhof verbrannt.« Nur ein Häufchen Asche ist von dem übrig geblieben, was in der Schillerschule fortan niemand mehr in den Mund nehmen sollte. Und was mindestens einen Jungen anderntags in Verdrückung brachte. »Der Schüler«, schmunzelt Stefanie Hansel, »kam zu mir und fragte mich, ob ›Du Banane‹ als Schimpfwort taugt.« Wie er darauf kam? Nun, alle anderen Fäkalvokabeln waren ja schließlich weg, weil in Flammen aufgegangen …

Positive Wirkung

Nicht, dass es seither keine wüste Verbal-Anmache und keine Pausenhofkeilerei mehr gebe; und nicht, dass seit Einführung des Konzepts zur Gewaltprävention an der Schillerschule dauerhafte Ruhe eingekehrt wäre. Jedoch: Positive Wirkung entfaltet Hansels und Ihles Einsatz sowie der des Kollegiums – Kernzeitbetreuung und Hausmeister inbegriffen – sehr wohl. Ein Effekt, der sogar messbar ist.

Waren es im Schuljahr 2018/19 bei aktuell 157 Grundschülern noch 50 Streitschlichtungsfälle massiver Natur, mit denen die Sozialarbeiterin befasst war, sind es seit Ende der Sommerferien gerade mal vier. Was indes nicht heißen soll, dass sich Lehrer-, Schüler- und Elternschaft auf ihren Lorbeeren ausruhen können. »Da darf man sich nichts vormachen. Gewaltprävention ist ein tägliches Geschäft. Kontinuität ist da sehr wichtig.«

Und man darf außerdem nicht glauben, dass sich das Konzept der Schillerschule eins zu eins auf andere Bildungsstätten übertragen ließe. Nur in Grundzügen, betonen Hansel und Ihle, sei dies möglich. Umso mehr, wenn ältere »Semester« durch Lob und Achtsamkeit diszipliniert werden sollen. Pubertierenden Zehntklässlern, so viel steht fest, sollte man besser keine Krönchen auf den Schreibtisch stellen. (GEA)