REUTLINGEN. Mit 40 Jahren hat Elisabeth Hirzel beschlossen, mit ihrer Freundin zusammen Sport zu treiben. »Mein Mann hat ganz erstaunt geguckt, dass ich abends weggehen will«, sagt die 89-jährige Reutlingerin. »Aber ich wollte auch mal was unternehmen. Das war damals für Frauen nicht üblich.« Weshalb sie und ihre Freundin die Postsportgemeinschaft (PSG), die vor bald 75 Jahren als Betriebssportverein für Post- und Telekom-Mitarbeiter gegründet wurde, ausgewählt haben, weiß sie nicht mehr. Sie selbst hat als Stenotypistin bei verschiedenen Firmen gearbeitet, aber nicht bei der Post. Die Gymnastikstunden hatten zunächst noch »in der Planie in einem Lyzeum dort« stattgefunden, erzählt die 1,55 Meter kleine, zierliche Frau, die aus Pommern stammt.
Bis 1945 hat sie auf Usedom in der ehemaligen preußischen Provinz gelebt. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sie mit ihrer Mutter von dort fliehen, erst nach Kiel und dann, nachdem sie dreieinhalb Jahre in Dänemark in einem Lager interniert waren, nach Betzingen. Erst als auch ihr Vater, der als Wehrmachtssoldat in Norwegen in Gefangenschaft war, wieder zur Familie gestoßen ist - und als gelernter Speditionskaufmann in der Maschinenfabrik Stoll Arbeit gefunden hat - zog die Familie vom »Stübchen« ohne eigenen Herd im Haus einer Betzinger Familie in eine richtige eigene Wohnung in die Karlstraße um.
»Statt eine Banklehre zu machen, durfte ich nur im Büro helfen«
Als Schülerin besuchte sie die 1905 als Mädchen-Mittelschule gegründete heutige Eichendorff-Realschule, wo ihr Französisch als Fremdsprache schwerfiel, da die Mitschülerinnen damit schon ein Jahr zuvor angefangen hatten. Englisch und Steno hingegen hatte sie schon im Lager gelernt. Das ging Elisabeth leicht von der Hand. Trotz ihres guten Abschlusses war es ihr verwehrt, eine Banklehre zu machen. »Ich durfte nur im Büro helfen«, sagt die zweifache Mutter und begeisterte Hobby-Gärtnerin.
Zurück zum Sport: Auch wenn ihre Freundin irgendwann weggezogen ist, blieb Elisabeth Hirzel der Gymnastik treu. Bis auf eine kurze, den Kindern geschuldete Unterbrechung, nimmt sie seitdem einmal die Woche am Training teil, erzählt die 89-Jährige. Da sie durchgehend Mitglied blieb, ist sie heute als Aktive am längsten im Verein - und wurde kürzlich für 50-jährige Mitgliedschaft geehrt. Wenn sie im Herbst das 90. Lebensjahr vollendet, wird sie zudem automatisch Ehrenmitglied, erklärt die PSG-Vorsitzende Ingrid Ziegelmüller.
»Wer allein lebt, muss im Notfall auch alleine wieder hochkommen«
Nicht nur Elisabeth Hirzel und fünf weitere agile über-80-jährige Seniorensportler sind aus Ziegelmüllers Sicht eine Besonderheit, sondern auch deren Leiterin: Monika Ulmer (62) hat vor 20 Jahren die Gruppenstunden des »Treffpunkt für Ältere« zusätzlich zum »Frauen-Fit-Mix«, dem sie sich selbst als junge Mutter 1992 angeschlossen hatte, übernommen. Mit unterschiedlichen Geräten wie Hanteln und Tubes hält sie die zehn Männer und Frauen zu fröhlich-poppigen Melodien vom Band in der Gymnastikhalle der Eichendorff-Realschule auf Trab.
Am Donnerstagabend vor den Osterferien erklingen da Abba und die Beach Boys. Die über-80-Jährigen stehen an Fitness und Motivation ihren zum Teil 30 Jahre jüngeren Sportskameraden in nichts nach. Nach dem Aufwärmen und Tubes-Übungen im Stand, geht es auch für Elisabeth Hirzel »auf den Boden«. Alle seien »klasse drauf«, lobt Monika Ulmer. Was sie zum Teil auf Fortbildungen speziell für Senioren gelernt hat, sei »Pillepalle im Vergleich dazu«. Gerade Elisabeth, die von Anfang an dabei war, »die fragt nicht viel, die läuft viel«. »Ich versuche es, sag ich mal so«, fügt die älteste Teilnehmerin bescheiden hinzu. Ulmer fördert Beweglichkeit, Kräftigung, Kondition, setzt aber auch auf Gleichgewichtsübungen und Sturzprophylaxe. »Wenn ältere Menschen allein leben, müssen sie im Notfall auch alleine wieder hochkommen«, erklärt sie.
»Da wird gestöhnt, gelacht und manche vergessen das Schnaufen«
»Üben, Üben und Technik hilft dabei«, sagt Abteilungsleiter Günther Wahl. Regelmäßig werde deshalb donnerstagabends in der Eichendorff-Gymnastikhalle »gestöhnt und auch gelacht - und manche vergessen sogar das Schnaufen«, berichtet der 62-Jährige. »Aber das fällt Moni sofort auf.«
»Wenn man das jahrelang regelmäßig betreibt, macht sich das schon bemerkbar«, ist sich Elisabeth Hirzel sicher, die vom Kreis der Älteren in Orschel-Hagen gern noch zu Fuß auf den Lerchenbuckel zurückkehrt - ohne Stöcke oder Rollator. Klar baue man mit dem Älterwerden ab. Aber die PSG-Gymnastik kostet sie keine Überwindung, darauf freue sie sich jedes Mal.
Weitere Infos zu den Angeboten des aktuell 187 Mitglieder zählenden PSV, dessen Badminton- und Volleyballgruppen dringend Verstärkung suchen, gibt es unter post-sg-reutlingen.de (GEA)