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Aktuell Zeitzeugin

Reutlingerin hat als Schreibkraft alle Erlasse der Hitlerzeit mitbekommen

Die 102-jährige Elita Rahm berichtet von ihren Aufgaben im Kreissozialamt und im Landtag von Württemberg-Hohenzollern

Zum Ausgleich für Schäden, die durch Bombardierungen entstanden waren, wandten sich Reutlinger – wie Fotograf Peter Dohm – an di
Zum Ausgleich für Schäden, die durch Bombardierungen entstanden waren, wandten sich Reutlinger – wie Fotograf Peter Dohm – an die Stadt, Bewohner anderer Gemeinden ans Kreissozialamt. FOTO: GEA-ARCHIV
Zum Ausgleich für Schäden, die durch Bombardierungen entstanden waren, wandten sich Reutlinger – wie Fotograf Peter Dohm – an die Stadt, Bewohner anderer Gemeinden ans Kreissozialamt. FOTO: GEA-ARCHIV

REUTLINGEN. Elita Rahm, geborene Haubensak, kam 1923 in Gönningen zur Welt. Von 1939 bis zur Hochzeit 1960 arbeitete sie im Reutlinger Kreissozialamt. Die 102-Jährige hat als eine der wenigen noch lebenden Zeitzeuginnen die Kriegs- und Besatzungszeit als junge Erwachsene erlebt. Bereits vor einiger Zeit schrieb sie ihre Erlebnisse während des letzten großen Fliegerangriffs auf Reutlingen im April 1945 nieder. Und berichtet von ihrer Arbeit nach Abschluss der dreijährigen Handelsschule zunächst als Schreibkraft und in der Telefonzentrale des Amtsgebäudes in der Bismarckstraße 16. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, als »nach und nach alle Beamten eingezogen wurden, bin ich in die Aufgabe eines Sachbearbeiters hineingewachsen«. So bekam sie »alle Bestimmungen und Erlasse der Hitlerzeit von Anfang an« mit.

Das Kreissozialamt war für die damals eigenständigen Gemeinden Altenburg, Bleichstetten, Bronnen, Bronnweiler, Degerschlacht, Dettingen, Eningen, Erpfingen, Genkingen, Glems, Gönningen, Gomaringen, Grabenstetten, Großengstingen, Hausen an der Lauchert, Holzelfingen, Honau, Hülben, Kleinengstingen, Mägerkingen, Metzingen, Mittelstadt, Neuhausen, Oferdingen, Ohmenhausen, Ohnastetten, Pfullingen, Reicheneck, Riederich, Rommelsbach, Sickenhausen, Undingen, Unterhausen, Urach, Wannweil und Willmandingen zuständig.

Dazu hat sie sämtliche Protokolle des Landtags von Württemberg-Hohenzollern von dort arbeitenden Stenographen in die Maschine diktiert bekommen, erzählt ihre Tochter Susanne Rahm-Schuck. Denn das Fräulein Haubensak konnte perfekt Maschineschreiben. »Dieser Landtag war das erste frei gewählte Parlament des nach dem Zweiten Weltkrieg in der französischen Besatzungszone entstandenen Landes Württemberg-Hohenzollern. Es bestand von 1947 bis 1952«, teilt deren Tochter mit, die die Berichte dem GEA zur Verfügung stellt. »Da sprachen unter anderen Carlo Schmidt, Professor Eschenbach und viele andere mehr. Auch der Rebell von Pfullingen, namens Staiger, meldete sich häufig zu Wort«, hat Elita Rahm notiert.

Ausgleich für Verluste

In der Bismarckstraße 16 waren auch das Jugend-, Kreisbau- und Kreisobstbauamt, die Tuberkulosen-Fürsorge, das Verwaltungsaktuariat, verantwortlich für die Verwaltungen in den Gemeinden, und die Kreisbildstelle, die Filme an Schulen verlieh, untergebracht, erklärt Elita Rahm. »Nach dem Krieg kam noch das Ausgleichsamt dazu, das für die Leute zuständig war, die Haus und Hof verloren hatten.« Im selben Gebäude wurden auch Klein- und Sozialrentner betreut. »Sie holten ihr Geld an der Kasse persönlich ab.« So viel sie noch wisse, »hatten diese Kleinrentner ihr Vermögen bei der Inflation 1923 verloren«. Noch 1939 gab es Leute, die aus diesem Grund Hilfen erhielten.

Unterhalt und Wohnraum

Mit Kriegsbeginn am 1. September 1939 musste sie »die Berechnungen für die Unterstützung der Familien der Soldaten machen. Das lief unter der Bezeichnung Familienunterhalt«. Wovon sonst hätten sie während des Kriegs leben sollen? Grundlage waren Lohnbescheinigungen der eingezogenen Soldaten. Zudem gab es Winterbeihilfen – und die NS-Volkswohlfahrt mit Sitz in der Hohenzollernstraße half hauptsächlich mit Holz und Kohle zum Heizen sowie Kleidung.

Im Verlauf des Krieges kamen immer mehr Evakuierte etwa aus dem Saargebiet hinzu. Deren Unterhalt hieß Heimatvertriebenenfürsorge. Auch Evakuierte aus bereits durch Bombenangriffe zerstörten Städten, »die bei uns einquartiert wurden, bekamen diese Hilfe«. Bei ihr zuhause lebte etwa eine Familie aus Stuttgart, die ausgebombt worden war. »Wohnraum wurde enteignet im Rahmen der Wohnraumbewirtschaftung«, berichtet sie. Darin war festgelegt, wie viele Quadratmeter jeder bewohnen durfte. »Den darüber hinausgehenden Wohnungsteil musste man abgeben, und er wurde dann mit Flüchtlingen belegt. Gegen Ende des Krieges kamen viele Flüchtlinge aus Polen, Schlesien, Ostpreußen, Banater-Schwaben und wie sie alle hießen. Auch sie erhielten die Heimatvertriebenenfürsorge. Später kam dann noch Fürsorge für die Vertriebenen aus der SBZ, der sowjetisch besetzten Zone, dazu.« Außerdem gab es zehn Mark Besuchergeld im Jahr für Besucher aus der SBZ. Diese Zahlung durfte aber nicht im Ausweis der Besucher eingetragen werden, was die Prüfung, ob die Zahlung schon erfolgt ist, schwer machte. Zusätzlich zur Heimatvertriebenenfürsorge gab es für Vertriebene das Ausgleichsamt, an das sie sich wenden konnten.

»Während des Krieges wurde die Kriegsbeschädigten-Fürsorge aufgebaut«, berichtet sie. Verwundete erhielten Rente vom Versorgungsamt Rottweil und ein Beamter im Kreissozialamt, selber Schwerbeschädigter, suchte nach Arbeitsplätzen für sie. Firmen mussten einen bestimmten Prozentsatz ihrer Belegschaft mit Kriegsbeschädigten besetzen – oder Geld zahlen. Nach einiger Zeit ging diese Aufgabe ans Arbeitsamt über.

»Nach dem Krieg wurden Sprechstunden des Kreissozialamtes in den Bürgermeisterämtern in den Dörfern des Kreises abgehalten. Mein Chef ist immer mit dem Dienstauto hingefahren. Ich durfte als seine Protokollarin mit. Das war immer ganz toll, denn es gab ein Vesper, da die Bürgermeister meist Bauern waren und den Städtern etwas Gutes tun wollten. Das waren die einzigen Situationen, wo wir etwas ›annehmen‹ durften.« (dia)