SONDELFINGEN.. Keine Umständlichkeiten und kein Chichi. Stattdessen ein Willkommenslächeln, schwarze Arbeitsschürze, schwere Steinplatten, Farbwalzen, die Aromen von Terpentin und Tusche sowie konzentrierte Schaffigkeit. Wer Karin Lengerer-Schaefer in ihrem Sondelfinger Atelier besucht, erlebt dortselbst eine unprätentiöse Frau, die mächtig ranklotzt. Und der betritt außerdem eine Welt, in der sich Nostalgie und Gegenwart zum Rendezvous verabredet haben. Denn in Lengerer-Schaefers Werkstatt wird nach historischen Verfahren und in schierer Handarbeit Gegenwartskunst geschaffen.
Es ist 11 Uhr. Die 73-Jährige öffnet die Tür zu ihrem kreativen Mikrokosmos. Schwarz-Weiß- und Farbdrucke zieren die Wände, in einer Ecke lehnen Bilderrahmen, auf einem Tisch warten Pinsel, Schwämme und Fettstifte auf ihren Einsatz. Besonders augenfällig: die raumgreifende Druckpresse, ein dunkelgraues Metall-Trumm, mit dessen Hilfe die Sondelfinger Künstlerin Lithografien produziert. Dass hierfür neben Augenmaß und Erfahrung auch Muskelkraft erforderlich ist – die kommenden anderthalb Stunden werden es beweisen.
Überzeugende Innovation findet prominente Freunde
Zunächst aber gibt’s ein bissle einführende Theorie. Lengerer-Schaefer erzählt, dass »die Steindruck-Kunst gegen Ende des 18. Jahrhundert von Alois Senefelder erfunden und perfektioniert wurde«. Wobei der Tüftler offenbar keinerlei künstlerische Ambitionen hegte. Vielmehr ging es ihm ums Alltagspraktische: um die Vervielfältigung von Texten und vor allem von Noten, die durch die neue Technik gestochen scharf zu Papier gebracht werden konnten. Eine Innovation, die überzeugte und darob immer weitere Kreise zog.
Bald schon erreichte sie auch die Kunstszene, nachdem Grafiker erkannt hatten, dass die Lithografie ein nachgerade perfektes Flachdruck-Verfahren darstellt, um Zeichnungen – ohne Qualitätsverlust – zu vervielfältigen. Was insbesondere die Reklame-Branche des ausgehenden 19. Jahrhunderts revolutionierte: Werbeplakate für Veranstaltungs-Ankündigungen oder Produkte boomten.
Who ist Who der ganz großen Kunstschaffenden
Längst waren sie nicht mehr bloß in Schwarz-Weiß zu haben, sondern auch als aufwendige Chromolithografien, deren Motiv-Vorlagen von bedeutenden Künstlern – oft als Brot-und-Butter-Aufträge – handgezeichnet wurden. Ob Henri Toulouse-Lautrec, Pablo Picasso, Georges Braque, Marc Chagall, Salvador Dalí oder Francisco Goya – die Liste derer, die Zeichnungen lithografisch kopierten oder kopieren ließen und in (Klein-)Serien auf den Markt brachten, liest sich für die Nachwelt wie ein Who is Who der ganz großen Kunstschaffenden.
Und trotzdem, weiß Karin Lengerer- Schaefer, sollte die Begeisterung für das Vervielfältigungsverfahren – übrigens war’s der Vorläufer des Offset-Drucks – nicht von Dauer sein. »Erst in den Siebzigern und frühen Achtzigern gab es eine Rückbesinnung auf die Lithografie«. Allerdings war es eher eine Renaissance en miniature.
Seither führt die Steindruckkunst ein arg beengtes Nischendasein. Mancher sieht in ihr sogar eine aussterbende Technik. Zumal es immer weniger Kreative gibt, die über das notwendige Knowhow und Equipment verfügen, um Porträts, Landschaftsansichten oder abstrakte Motive in diesem alten Druckverfahren zu Papier zu bringen.
Prinzip der Abstoßung von Wasser und fettigen Substanzen
Karin Lengerer-Schaefer ist einer dieser raren Menschen, die wissen, wie’s funktioniert. Was sie übrigens mit vier Gleichgesinnten eint, die sich regelmäßig in der Reutlinger Volkshochschule treffen, um Bilder im Steindruckverfahren herzustellen. Dieses beruht auf dem Prinzip der Abstoßung von Wasser und fettigen Substanzen. »Als Grundlage«, erläutert die Sondelfinger Künstlerin, »dient eine plan geschliffene und gründlich entfettete Kalksteinplatte.«
Dieser sogenannte Lithokalk wird in den Steinbrüchen um das bayerische Örtchen Solnhofen gewonnen und besteht fast ausschließlich aus Kalziumkarbonat. Er hat eine extrem feine Körnung, wird vor jedem Gebrauch gründlich mit Wasser getränkt und mit Sand abgeschliffen, ehe mittels fetthaltiger Kreide oder Tusche das gewünschte Motiv auf die wieder getrocknete (!) Steinplatte gezeichnet wird.
»Dann muss der Stein präpariert, also druckbar gemacht werden. Er wird geätzt«, erläutert Lengerer-Schaefer. Konkret: Durch dieses Procedere sollen fettanziehende Stellen der Zeichnung verstärkt werden, derweil die fettabstoßenden Bereiche wasseraufnahmefähig bleiben. »Fett und Stein werden auf fürs menschliche Auge unsichtbare Weise chemisch verändert.«
Ätzvorgang mit stundenlangen Pausen
Drei Mal wird dieser Ätzvorgang mit jeweils vierstündigen Zwischenpausen wiederholt. Erst jetzt kommt Farbe ins Spiel und wird auf dem feuchten Stein ausgewalzt. Womit endlich alles für den eigentlichen Druckvorgang vorbereitet wäre, heißt: Steinplatte auf die Presse wuchten, angefeuchtetes Spezialpapier drüberlegen, mit einer Plexiglasscheibe deckeln, die Druckpresse mit Muskelkraft bedienen – et voilà, fertig ist die Lithografie. Oder auch nicht. Denn wurde zu viel oder zu wenig Farbe aufgewalzt, lässt das Ergebnis zu wünschen übrig. »Hier ist Erfahrung gefragt.« Zuweilen auch Nachbearbeitung von Hand.
Aktuell schafft Karin Lengerer-Schaefer gerne mit Foto-Vorlagen für ihre Kunst, mit Digital-Aufnahmen, die per Laserdrucker zu Papier und dann zu Steinplatte gebracht werden. Auf diese Weise sind beispielsweise Litho-Porträts ihrer vier Enkel entstanden. Wobei es von jeher Menschen sind, die Lengerer-Schaefer künstlerisch interessierten und herausforderten: ihre Gesichter, mal entfremdet, mal lebensecht für die Nachwelt festgehalten; ihre Körperhaltungen und Staturen, Emotionen, die sich in Gesten ausdrücken – ein unerschöpflicher Quell der Inspiration.
Schon an der Stuttgarter Kunstakademie schlug das Lithografinnen-Herz der heute 73-Jährigen genau dafür. Wiewohl sie schon damals erkannte, »keine Vollblutkünstlerin« zu sein. Andernfalls »hätte ich keine Familie gründen können«. Doch die war der talentierten jungen Frau wichtig. Weshalb es in ihrer Biografie lebensläufige Kunstpausen gab, die sich durchaus rächten. »Ich hatte jedes Mal das Gefühl, wieder von vorne anfangen zu müssen. Denn für qualitativ gute Ergebnisse, ist eine Menge Erfahrung nötig.«
Ob »Lithos« einen abermaligen Frühling erleben?
Mit dem Auszug der beiden Kinder kam dann aber letztlich doch wieder »viel Kunst in mein Leben zurück«, und mit den vier Enkeln durchaus begeisterte »Nachwuchs-Lithografen«, die sich gerne in Omas Werkstatt zu schaffen machen. Ob sie Hoffnungsträger für ein aussterbendes Genre sind?
Nein. Da winkt Karin Lengerer-Schaefer ab. »Das kann ich mir ehrlich gestanden nicht vorstellen.« Wiewohl es für die Sondelfingerin natürlich trotzdem schön wäre, wenn »Lithos« einen abermaligen Frühling erleben dürften.
Einen solchen Lenz sieht die Künstlerin bislang freilich nirgends erblühen. Auch deshalb, weil Anfängerkurse für dieses besondere Flachdruckverfahren dünn gesät sind. »Es ist eben zeitaufwendig. Das kann abschreckend wirken« und drückt auf die Teilnehmerzahlen. Für ungeduldige Zeitgenossen, die binnen Kurzem ein Ergebnis in Händen halten wollen, ist klassische Lithografie nämlich ganz gewiss nicht das Richtige. (GEA)