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Reutlinger Sozialgericht: Oft geht es um Fragen der Würde und Existenz

Das Reutlinger Sozialgericht kennt kaum einer, aber es hat immer mehr zu tun. So haben sich die Fallzahlen im vergangenen Jahr entwickelt und das wurde verhandelt.

Das Sozialgericht Reutlingen residiert weitgehend unbekannt in der Schulstraße 11.
Das Sozialgericht Reutlingen residiert weitgehend unbekannt in der Schulstraße 11. Foto: Stephan Zenke
Das Sozialgericht Reutlingen residiert weitgehend unbekannt in der Schulstraße 11.
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Der Sohn ist auf dem Schulweg verunglückt, aber die Unfallkasse mag nicht bezahlen. Die Mutter braucht ein Pflegebett, jedoch will die Krankenkasse keine Kosten übernehmen. Allein diese zwei Beispiele zeigen, wie das Sozialrecht ganz schnell jeden betreffen kann. Deswegen hatte das Reutlinger Sozialgericht auch im vergangenen Jahr wieder mehr zu tun, obwohl es kaum einer kennt. Hinter den Zahlen stecken teilweise harte Kämpfe um menschliche Würde und wirtschaftliche Existenzen.

2.694 Klagen und Anträge sind den Richterinnen und Richtern in der Reutlinger Schulstraße 11, genau gegenüber von einer Niederlassung der Bundesbank, im Jahr 2024 eingegangen (Vorjahr: 2.546). Darunter waren 170 Eilanträge (Vorjahr 195), etwa wenn ein Bürgergeldempfänger dringend Geld vom Amt für seine Heizungskosten braucht. »Mit dem Sozialrecht kommen sie immer in Berührung«, erklärt der Reutlinger Gerichtspräsident Martin Rother bei der Vorlage der Jahresbilanz, »denn jeder hat eine Krankenkasse«. Den wesentlichen Unterschied zwischen Fällen, die nur wenig entfernt im Amtsgericht Reutlingen verhandelt werden, erläutert Rother umgehend: »Bei uns wollen sie was. Im Strafgericht kriegen sie was - nur oft nicht das, was sie wollen«.

»Bei uns wollen sie was. Im Strafgericht kriegen sie was - nur oft nicht das, was sie wollen«

Weswegen die Bürger vor dem Sozialgericht klagen, dokumentiert die Verteilung der Eingänge nach Rechtsgebieten. Schwerpunkte waren erneut das Schwerbehindertenrecht (513 Fälle, Vorjahr 526), die Rentenversicherung (538 Fälle, Vorjahr 508) sowie die Kranken- und Pflegeversicherung (445 Fälle, Vorjahr 407). Dabei geht es um so existenzielle Konflikte wie die Feststellung eines bestimmten Grades der Schwerbehinderung oder die passende Pflegestufe sowie die Übernahme von Behandlungskosten. »Es wird heftig gekämpft«, beschreibt Rother wie sich eine gesamtgesellschaftliche Stimmung auch vor Gericht auswirkt.

Das Sozialgericht Reutlingen residiert weitgehend unbekannt in der Schulstraße 11.
Das Sozialgericht Reutlingen residiert weitgehend unbekannt in der Schulstraße 11. Foto: Stephan Zenke
Das Sozialgericht Reutlingen residiert weitgehend unbekannt in der Schulstraße 11.
Foto: Stephan Zenke

»Die Sozialgerichte sind ein Spiegel der wirtschaftlichen Lage«, sagt der Präsident der Reutlinger Institution, deren Bezirk die Landkreise Reutlingen und Tübingen sowie den Zollernalbkreis und die Region Schwarzwald-Baar umfasst. Im 1890 als Nebenstelle der Reichsbank erbauten Gebäude arbeiten heute zehn Richter in Vollzeit, vier in Teilzeit plus 182 ehrenamtlichen Richterinnen und Richter. Wer hier sein Recht sucht, wird vom Gesetzgeber zuvorkommend behandelt: Gerichtskosten fallen keine an, die Begleitung eines Rechtsanwaltes ist nicht zwingend notwendig.

»Manche der Vielkläger wollen keine Entscheidung. Wir schreiben jedem zurück - für einige eine nette Brieffreundschaft«

"Die Verfahren kosten bei uns in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nichts", sagt Rother. Gelegentlich werde das missbraucht, um die Institution ohne Sinn und Zweck zu beschäftigen. »Manche der Vielkläger wollen keine Entscheidung. Wir schreiben jedem zurück - für einige eine nette Brieffreundschaft«, stellen die Richter fest. Allerdings sei der "große Teil der Kläger vernünftig".

Fallbeispiele aus dem Sozialgericht Reutlingen

Für seinen 2018 geborenen Sohn stellte der Kläger als privatpflegeversicherter Beamter gegenüber der privaten Pflegekasse einen Pflegeantrag. Der Sohn leidet an Diabetes mellitus Typ 1 und ist mit einem Sensor sowie einer Insulinpumpe versorgt. Die Beklagte bewilligte zunächst Leistungen nur nach Pflegegrad 1 - die Eltern wollten mehr. Nach Einholung von zwei Pflegegutachten hat das Gericht dem Kläger Leistungen nach Pflegegrad 2 für einen bestimmten Zeitraum zugesprochen. Es kam zu der Auffassung, dass ein höherer Betreuungsaufwand durch die Eltern bei der bestehenden Erkrankung des Kindes erforderlich sei. Das Urteil ist rechtskräftig.

Kein Arbeitsunfall ist nach Auffassung des Sozialgerichs der Mountainbikesturz eines Jugendlichen beim Downhill Weltcuptraining. Der junge Mann war zum Zeitpunkt des Unfalles Mitglied eines Radfahrervereins. Durch die Folgen des Sturzes ist er seitdem auf den Rollstuhl angewiesen. Die Unfallversicherung lehnte Leistungen ab. Der Radfahrer sei als Freizeitsportler ohne Bezahlung tätig gewesen. Somit sei er kein Berufssportler, mithin auch kein Fall für die gesetzliche Unfallversucherung. Gegen das Urteil ist eine Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg anhängig. (pr)

Aufgefallen ist am Sozialgericht, »dass die Streitigkeiten um die Folgen von Corona zunehmen«. Dabei geht es um manche Menschen, die für sich selbst Impffolgen geltend machen möchten - aber in ihrem Einzelfall den schwierigen Nachweis führen müssen. Ebenso gab es Prozesse um kostspielige Behandlungen von Post-Long-Covid, bei denen die Krankenkasse keine Kosten tragen wollte - und letztlich vorerst Recht bekam. Aktuell beschäftigt ein anderer Konfliktbereich zunehmen das Sozialgericht. Es geht um Fertighaushersteller, die gegen die Erhöhung der Gefahrentarife der Berufsgenossenschaft vorgehen. »Wir haben hier in Reutlingen zehn Klagen. Die Fronten sind sehr verhärtet«, beschreibt Rother. Klar, denn es geht um eine Menge Geld für die Unternehmen.

Interessant ist, wie sich Klagen erledigen. Laut Statistik wurden im vergangenen Jahr 35,87 Prozent zurückgenommen, während es in 27,32 Prozent zu einer Entscheidung gekommen ist. Das ergab unter dem Strich 677 Entscheidungen, wovon es sich in 374 Fällen um den Gerichtsbescheid eines Berufsrichters in einfach gelagerten Fällen gehandelt hat. Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug etwa ein Jahr. Am langwierigsten waren Prozesse im Bereich des Schwerbehindertenrechtes. (GEA)

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