REUTLINGEN. Die Bundestagswahl ist vorbei, der Souverän hat gesprochen und die Karten neu gemischt. Das künftige Berliner Parlament wird ohne FDP und BSW auskommen müssen, die beide an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind. Derweil die AfD die Zahl ihrer Mandate nahezu verdoppeln konnte und auch die Linke einen bemerkenswerten Höhenflug erleben durfte. Soweit die Faktenlage. Wie aber wird diese von den Bürgern bewertet? Sind die Menschen mit dem Ausgang des Votums zufrieden? Oder hätten sie sich ein anderes Kräfteverhältnis gewünscht? Der GEA hat bei Passanten auf der Wilhelmstraße nachgehakt und ein Stimmungsbild eingeholt.
»Ob ich mit dem Wahlausgang zufrieden bin? Ganz und gar nicht. Ich bin erschüttert«, sagt Daniel Huber (59), dem insbesondere das starke Abschneiden der Alternative für Deutschland (AfD) schwer im Magen liegt. »Es ist unerträglich, dass so viele Wähler diesen 'Faschos' auf den Leim gegangen sind.« Wiewohl es aus Sicht des Reutlingers noch »viel schlimmer« hätte kommen können: »wenn mehr Parteien Einzug in den Bundestag gehalten hätten, das Parlament dadurch sehr kleingliedrig und Mehrheitsbildung noch kniffliger geworden wäre«. Unter den gegebenen Voraussetzungen wünscht sich Huber eine Regierungskoalition aus CDU und SPD - auch »wenn wegen des Absturzes der Sozialdemokraten von keiner GroKo mehr die Rede sein kann«.
Nicht resignieren, sondern das »Positive« im Blick behalten
Ganz ähnlich die Meinung von Rahel Milla, die zwar »schockiert« darüber ist, dass »eine offen rechtsextreme Partei etwa 20 Prozent der Stimmen« für sich verbuchen kann, deshalb aber nicht resigniert, sondern trotzdem »das Positive« im Blick zu halten versucht. Denn etwas Gutes habe die Abstimmung schließlich doch gezeitigt: »BSW und FDP sind draußen.« Das mache die Regierungsbildung einfacher, ist die 33-Jährige überzeugt. Positiv sei außerdem, dass »die Linke gestärkt« in die nächste Legislaturperiode geht und dass »mit CDU und SPD glücklicherweise zwei Parteien der Mitte koalieren und die großen Probleme und Herausforderungen angehen können«. Hierfür bedürfe es freilich einer ordentlichen Portion Kompromissfähigkeit und der Bereitschaft, konsequent an einem Strang zu ziehen. Andernfalls, so die Reutlingerin, werde es für Deutschland vermutlich bitter. Zumal weitere Regierungsstreitigkeiten nur der AfD in die Hände spielen würden - mit mutmaßlich »desaströsen Ergebnissen bei der nächsten Bundestagswahl in vier Jahren« und einer Kanzlerin namens Weidel.
Stimmenzuwachs der AfD »schmerzt«
Was Milla da skizziert ist auch für Stefanie und Stefan Löwl ein »leider durchaus realistisches Worst-Case-Szenario«. »Schwarz-Rot«, erklären sie, »ist in den nächsten vier Jahren sicherlich machbar - aber, was blüht uns danach?« Was, wenn Christ- und Sozialdemokraten bei wichtigen Fragen keine tragfähigen, sondern faule Kompromisse schließen? Etwa in puncto Migration. »Da liegen CDU und SPD Stand heute doch sehr weit auseinander. Dabei ist dieses Thema ein zentrales, das viele Menschen bewegt - und der AfD bereits zahllose Wähler in die Arme getrieben hat.«
Ansonsten sei das jüngste Wahlergebnis für Löwls »erwartbar« gewesen. »Wenn es in der politischen Mitte rumort, werden die Ränder gestärkt. So ist das eben. Damit werden wir leben müssen - obwohl der Stimmenzuwachs der AfD richtig schmerzt.«
Erfreulich hohe Wahlbeteiligung
Letzterer bereitet auch Lucia Buchmiller Pein. Wiewohl sie trotzdem »optimistisch« ist und auf die »erfreulich hohe Wahlbeteiligung« zu sprechen kommt. »Es ist toll, dass so viele Wähler mobilisiert werden konnten. Für mich ist das ein wirklich positiver Aspekt an dieser Bundestagswahl: die Demokratie lebt und Deutschland wird wieder politischer!« Wiewohl sich die Stuttgarterin gewünscht hätte, dass »Bündnis 90/Die Grünen mehr Mandate erhalten und es für ein schwarz-grünes Zweierbündnis reicht«.
Andere Zuwanderungspolitik erwünscht
Derweil Sibylle, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung abgedruckt sehen möchte, »einfach bloß froh ist, dass die Grünen an Popularität verloren haben«. Für den Geschmack der 55-Jährigen »sind die noch viel zu gut weggekommen«. Sibylle hätte es nämlich lieber gesehen, wenn sie »rausgeflogen wären« und stattdessen die AfD, die die Reutlingerin »super« findet, noch stärker zugelegt hätte: »weil sie gute Argumente hat«. Ginge es nach Sibylle, sollten CDU und AfD koalieren. Wobei in diesem Fall die AfD die Kanzlerin stellen müsste. Begründung: »In der CDU steckt noch viel zu viel Merkel drin. Wir brauchen dringend eine andere Zuwanderungspolitik - das sage ich klipp und klar. Eine Rassistin bin ich trotzdem nicht.«
Starke Regierung, starke Wirtschaft, kontrollierte Migration
Rufe nach einer anderen Zuwanderungspolitik kann Baris Yigitt nachvollziehen. Der Türke, der in Deutschland Asyl beantragt hat und inzwischen über ein Bleiberecht ohne Wenn und Aber verfügt, versteht, dass sich viele Bürger vor Überfremdung durch unkontrollierten Migrantenzustrom fürchten. Während seiner Erstunterbringungs-Zeit in einer Gemeinschaftsunterkunft hat er festgestellt, dass »90 Prozent meiner Mitbewohner nicht verfolgt oder bedroht waren, sondern aus wirtschaftlichen Gründen hergekommen sind«.
Er selbst - studierter Jurist - musste hingegen flüchten, weil er andernfalls unverschuldet in einem türkischen Gefängnis gelandet wäre. Deshalb hat er Asyl beantragt und wird demnächst einen Job als angelernter Mechatroniker in Reutlingen antreten. »Die Bundesrepublik«, sagt der 43-Jährige, »braucht in aktuell schwierigen Zeiten eine starke Regierung, eine starke Wirtschaft und kontrollierte Migration.« (GEA)