REUTLINGEN. Die Tage können lang werden, wenn man alleine zu Hause lebt. Selbst, wenn die Kinder oder der Pflegedienst regelmäßig nach einem schauen, für einen einkaufen, kochen, einen beim Baden unterstützen oder zu Arztbesuchen begleiten. Auch Heinz Otto Wittke weiß, wie sich dies anfühlt. Der 90-Jährige ist geistig topfit, aber der Körper macht nicht mehr mit. »Aus dem Haus kann ich kaum noch gehen«, erzählt der Senior. Und seit seine Frau im Februar verstorben ist, ist es still und oft einsam in seinem kleinen Haus. Früher, da hat er im Garten gewerkelt, war aktiv. Nun freut er sich über jede Abwechslung, die ihm der Alltag bietet.
Seit April gehört zu diesen Sonnenseiten des Lebens Brigitte Heizmann. Die pensionierte Lehrerin engagiert sich seit einigen Jahren als »Seniorenpatin«, und nachdem eine ältere Dame, die sie über viele Jahre besucht hat, verstorben ist, hatte sie Zeit für einen neuen Schützling. Jeden Donnerstag kommt sie für eineinhalb bis zwei Stunden zu Besuch, bringt Kuchen mit und unterhält sich angeregt mit Heinz Otto Wittke.
»Die Flüchtlingsgeschichte prägt einen das ganze Leben über«
Der hat viel zu erzählen aus einem bewegten Leben mit vielen Schicksalsschlägen: Mit 14 Jahren flüchtete er 1948 mit seinem Vater und den älteren Brüdern von Königsberg nach Württemberg, zunächst ins katholische Munderkingen auf der Schwäbischen Alb – wo die Aufnahme für die Flüchtlinge kurz nach Kriegsende alles andere als herzlich war, danach zog die Familie nach Reutlingen. Es war ein Leben mit wenig Geld, und schon früh verließ er die Schule, um zum Lebensunterhalt beizutragen. »Diese Flüchtlingsgeschichte prägt einen das ganze Leben über«, sagt Wittke. Lange litt er unter Minderwertigkeitskomplexen, doch dann beschloss er mit 22 Jahren, eine Lehre zu absolvieren, gefolgt von der Technikerausbildung an der Abendschule.
Nach dem erfolgreichen Abschluss hat es ihn als jungvermählten Mann mit seiner Frau nach Irland verschlagen. »Das war die schönste Zeit, damals hat mein Leben angefangen«, blickt er wehmütig zurück. Drei Jahre blieben die beiden auf der Insel und wurden danach in Betzingen sesshaft. Zwei Töchter hat Wittke, eine lebt mit ihrer Familie in Freiburg, die andere in Reutlingen. Sie schaut regelmäßig nach ihm, aber trotzdem gehöre der Besuch von Brigitte Heizmann zu den Höhepunkten im Alltag. Die Familienangehörigen sind mit Organisatorischem rund um die Pflege und dem Haushalt recht ausgelastet, oft sind sie noch berufstätig. Anders bei den Paten, die ohne Hektik kommen und sich rein auf die gemeinsame Zeit konzentrieren können.
»Ich habe Zeit zu geben«
"Da warte ich immer schon die ganze Woche darauf", sagt Wittke. "Und das nicht nur wegen des leckeren Kuchens", ergänzt er mit einem schelmischen Grinsen. Er kann aus seinem Leben plaudern, was auch für die Patin äußerst unterhaltsam ist. "Ich bekomme spannenden Einblicke und eine andere Sichtweise", sagt Heizmann, "beide Seiten erhalten neue Impulse und profitieren dadurch von dem Programm". Als sie vor acht Jahren in den Ruhestand ging, habe sie sich überlegt, wo sie sich sozial engagieren könnte. »Ich habe Zeit zu geben«, so sei ihre Überlegung gewesen, ein wertvolles Gut, das von den älteren Menschen nur zu gerne angenommen wird. Ein Jahr lag der Infoflyer auf ihrem Schreibtisch, bevor sie sich ein Herz gefasst und sich angemeldet hat. Seitdem hat sie bereits mehrere Senioren besucht – und will dieses Engagement fortführen, solange es geht.
Seit etwas mehr als zwei Monaten dauert die Patenschaft zwischen Brigitte Heizmann und Heinz Wittke an – doch wenn man sie beobachtet, wirken sie enorm vertraut. Sie erzählen sich Episoden aus der Vergangenheit, debattieren aber auch immer wieder leidenschaftlich. »Letzte Woche haben wir beispielsweise über die Rolle der Frau diskutiert«, berichtet Heizmann. Final überzeugen konnte keiner den anderen, daher steht noch eine Fortsetzung aus. Auch das aktuelle Tagesgeschehen sorgt immer wieder für Gesprächsstoff. Denn trotz seiner 90 Lebensjahre ist Wittke bestens informiert, er liest täglich seine Tageszeitung, den GEA, und verfolgt das Weltgeschehen. Sie finde es total mutig von dem 90-Jährigen, dass er sich darauf eingelassen habe, jede Woche einen Fremden ins Haus zu lassen, sagt Heizmann. Wittke hingegen kann es oft kaum glauben, dass es Menschen gibt, die sich in ihrer Freizeit unentgeltlich um andere kümmern.
Das Projekt Seniorenpaten
Im September 2010 wurde von den drei Krankenpflege-Fördervereinen Betzingen, Degerschlacht/Sickenhausen und Rommelsbach das Projekt Seniorenpaten ins Leben gerufen. Die drei Vereine haben sich 2019 zum Verein »Gemeinsam vor Ort – Diakonie Leben« zu zusammengeschlossen.
In dem Projekt geht es darum, dass ehrenamtliche Paten ältere Menschen aus den vier Bezirksgemeinden regelmäßig zu Hausen besuchen. Die Projektorganisatorin Sabine Lehmkühler vermittelt die Ehrenamtlichen an Senioren, die zu Hause oder im betreuten Wohnen leben und die sich Kontakte wünschen. Die Paten besuchen »ihren« Senioren zwei bis vier Mal pro Monat etwa zwei Stunden lang, um Freude und Abwechslung in den Alltag zu bringen. Derzeit kümmern sich 38 Paten um Senioren.
Wer Interesse hat, als Pate tätig zu werden, kann sich an »Gemeinsam vor Ort«, Sabine Lehmkühler, wenden. Ebenso dürfen sich auch Senioren, die Besuch wünschen, gerne melden.
Telefon 07121/504026
seniorenpaten@t-online.de
www.seniorenpaten.de.
Sabine Lehmkühler, die das Patenprojekt für »Gemeinsam vor Ort« betreut, achtet bei der Auswahl der Paare darauf, dass diese zusammenpassen. In Hausbesuchen und Vorgesprächen klopft sie Interessen ab, »meistens klappt es gut«, berichtet sie. Doch auch wenn es in seltenen Fällen mal nicht harmoniert, ist dies kein Beinbruch, dann sucht sie weiter. Zudem steht sie auch während der Patenschaft ständig als Ansprechpartnerin zur Verfügung. Im Fall des Duos Heizmann/Wittke war unter anderem wichtig, dass der Pate laut und deutlich spricht, denn Wittke hört etwas schlecht. Für die einstige Lehrerin Heizmann kein Problem. Neigt sich der Besuch von Brigitte Heizmann dem Ende entgegen, fragt sie jedes Mal, ob sie nächste Woche denn wieder kommen solle. »Auf jeden Fall«, entgegnet Wittke darauf immer. »Das ist dann das Schöne für mich an diesen Besuchen«, so Heizmann. (GEA)