REUTLINGEN. Mehr als 400 Jahre, von 1374 bis 1802, war Reutlingen freie Reichsstadt, und damit keinem Landesfürsten, sondern direkt dem Kaiser unterstellt. Diesen besonderen Status feierte die Stadt mit einem Schwörtag jedes Jahr am 2. Sonntag nach dem Ulrichstag, dem 4. Juli. Der heute zum immateriellen Unesco-Kulturerbe zählende Schwörtag war das zentrale politische Stadtereignis, in dem sich Bürgermeister und Bürgerschaft aufeinander einschworen. Und zugleich ein allgemeiner Festtag, ein »Tag demokratischen Frohsinns«. So passt es, dass die Stadt, seit sie 2005 unter Oberbürgermeisterin Barbara Bosch mit dem Schwörtag der Moderne wieder an die Tradition anknüpft, ihr Schwörwochenende ganz vielfältig gestaltet.Zum Auftakt. Am Freitag, 12. Juli, bildet der Vortrag von Gastreferent Dr. Aribert Rothe im Foyer des Rathauses den geistig-gediegenen Auftakt zum Festwochenende.
Ein Markt wie im Mittelalter. Den Geist allenfalls aus der Met-Flasche und mithin das pralle Leben verkörpern zeitgleich temporäre Bewohner des Reutlinger Volksparks: Dort sind am Freitagnachmittag – dem Wolkenbruch trotzend – neuzeitliche Ritter eingezogen. Zahlreiche Mittelalter-Fans lagern das Schwörwochenende über auf den Rasenflächen. Bei stabilerem Wetter köcheln dort am Schwörsamstag etwa die »Plattenwald-Barbaren« ihr Süppchen über offenem Feuer. Ein paar Schritte weiter wird zum Axtwerfen geladen. Eine Band verscheucht mit ohrerschütternden Dudelsackklängen die Wolkenreste, während Ritter der »Leitwölfe« Speerkämpfe vorführen. An zig Ständen wird dazu Selbstgemachtes und Stärkendes verkauft. Der Euro hat schon Einzug gehalten in dieser nachgestellten Welt – genauso wie Cola, Handykameras und eine willkommene Wasserdampfschleuse. Eine Besucherin sagt: »Dies ist nicht meine Welt, aber die Leute sind cool« – und empfiehlt den Eiskaffee am makrameegeschmückten Waffel-Stand. Der sei »mit Liebe gemacht«.
Handwerk ohne Strom. Mit Liebe ist auch der Reutlinger Rentner Andreas Rösch bei der Sache, wenn er an seiner nach altem Vorbild selbst gebauten Drechselbank vorführt, wie aus einem Stück Birnenholz ohne Strom ein praktischer Flaschenverschluss wird. Vom Topf über offenem Feuer des Rittervolks Trochtelfingen, dem er angehört, zieht der Duft köchelnder Linsen herüber, während der gelernte Schreiner erzählt, wie er am Freitagabend nicht nur äußerlich durch den Regen, sondern beim »Zammhocken« auch innerlich recht feucht geworden ist.
Landsknecht und Ritter. Meo und Anton aus Tübingen ziehen in Ritter- und Landsknecht-Kluft über den Markt. Dabei setzt die kiloschwere Metallrüstung Meos (Bewegungs-)Freiheit Grenzen. Landsknechte waren »die Machos ihrer Zeit«, erklärt Anton und führt sein Federstahlschwert vor. Beide sind Geschichtsfans und schätzen seit Jahren solche »Kurzurlaube vom Alltag« mit Familie und Freunden. »Wir verkaufen hier nichts«, sagt Ritter Meo, aber machen bei Vollkontaktkämpfen und Schwertfechten mit. »Sonst sind wir ganz normale Leute«, betonen die beiden Schüler.
Der Vorabend. Am Samstagabend stimmt im Hof des Friedrich-List-Gymnasiums – dem einstigen Schwörhof – die Stadtkapelle aufs Schwörwochenende ein. Dirigent Markus Frieß erläutert das Repertoire und stellt Musiker mit ihren Instrumenten vor: Jan an der Tuba, Jule mit ihrer Piccolo-Flöte. Die hebt sogleich zum »Rock Opening« an – »da rumpelt’s, das ist echt schön«, erklärt der Orchesterleiter. Auf den feurigen »Säbeltanz« folgen Polka, Ballettmusik, Pop und die Fernsehmelodie der »Sendung mit der Maus«. Während sich die Biergarnituren unter den Kastanienbäumen füllen, hüpfen Kinder mit Fähnchen in den Stadtfarben Schwarz-Rot-Weiß umher, die Mitarbeiterinnen des Kulturamts ausgeben.
Erstmals mit Fassanstich. Eine Neuerung des 18. Schwörtags: Oberbürgermeister Thomas Keck sticht das von der Brauerei gespendete 30-Liter-Bierfass an. Fünf Schläge mit dem Holzhammer, dann sprudelt der Gerstensaft. Freibier geht an flugs herbeigeeilte Durstige. Vereine, Bäcker, Metzger und Schüler bieten noch mehr zum Trinken und Essen an. Als Sektkorken knallen, sagt Moderatorin Steffi Renz: »So wollen wir das haben.«
Die Band. Bald wandelt sich der Hock zum Schwof: Um 20 Uhr entert die Stuttgarter Band Stereolines die Bühne. Mit eigenen Stücken und Cover-Versionen unter anderem von Incubus laden die vier Musiker, die schon Vorgruppe von Santana waren und demnächst bei den Jazzopen spielen, zum Tanz. Nach anfänglichem Zögern kommt die Festgesellschaft bei diesem kostenlosen Konzert in Schwung – allen voran SPD-Gemeinderat Helmut Treutlein mit Frau.
Festzug am Sonntag. Turmbläser der Marienkirche, Gottesdienst mit Dekan Marcus Keinath und Pfarrer Roland Knäbler sowie der Kantorei, und der Festzug über den Marktplatz läuten am Sonntag den eigentlichen Schwörtag ein. Begleitet vom Winken und Klatschen zahlreicher Bürger schreiten die Teilnehmer zum Schwörhof. Laut Moderatorin Renz ist es dort »picke-packe voll«. Kein Wunder, es herrscht herrlichstes Kaiserwetter.
Festrede und Festgäste. Dieser Tag endet nicht, wie viele gehofft haben, mit der deutschen Nationalelf im EM-Finale. »Ich wünsche mir für dieses Land, dass wir erkennen, dass es gemeinsam einfach besser geht«, sagt der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck im Hinblick auf die tolle Leistung von Nagelsmanns Team zur Begrüßung der Festgäste im einstigen Schwörhof. Und: »Leider muss ich Ihnen mitteilen: Sie sind in Reutlingen!« Der OB fährt heiter-ironisch im Sinne der jüngst viele Schlagzeilen und 190.000 Internetklicks generierenden städtischen Werbekampagne fort. »Wir sind Demokratie-lingen« spinnt er deren auf Interaktion setzende Slogans fort, fordert »mehr Rückbesinnung auf die demokratische Tradition unserer Stadt« und erhält dafür spontan Extra-Applaus. Seine Schwörrede umrahmen Schülerchöre des Friedrich-List-Gymnasiums und die Gruppe Chorisma vom Reutlinger Liederkranz.
Der Schwur. Den Eid nimmt dem Stadtoberhaupt sehr souverän List-Schüler Leon ab, nachdem er OB Keck mit den Worten »geachtet sei unsere Tradition zum Wohl jeder Reutlinger Generation« als Insignie den Schwörstab gereicht hatte. »Meinem befohlenen Amt mit Treue und Fleiß in aller Sorgfältigkeit vorzustehen«, »Nachteil und Schaden zu warnen und zu wenden«, Armen wie Reichen »ein gleicher und unparteiischer Amtmann zu sein« und »insgemein das Beste zu tun«, das gelobt schließlich der Oberbürgermeister mit dem Stab in seiner rechten erhobenen Hand.

Der Fahnenflaiger. Thomas Walker ist ein Phänomen. Ohne im geringsten die Miene zu verziehen auf der Bühne zu stehen, ist schon eine Leistung an sich. Dabei schwingt der weißhaarige Mann aber auch noch einhändig sieben bis an die 20 Kilo schwere Fahnen, erst die der Stadt, dann jene der Reichsstadt. Ob unter den Beinen hindurch oder über den Kopf, solcherlei Akrobatik verdient höchsten Respekt. »Einmal muss man schon üben«, sagt er dazu staubtrocken.
Die Schützen. Zum Abschluss des Zeremoniells knallen Salutschüsse des ältesten Vereins der Stadt, der Schützengilde. Die Böllerschüsse leiten zum gemütlichen Teil über. Den gestalten der Musikverein Betzingen und das Naturtheater Reutlingen mit Ausschnitten aus seinem Programm. Für die Kinder gibt es auf dem Schulhof nebenan die Möglichkeit, Sprungseile selbst zu drehen und sich frisieren zu lassen.
Zeitreise im Park geht weiter. Während all dieser Zeit entführen im Volkspark noch bis zum späteren Nachmittag die Händler, Gaukler, Handwerker und Schwertkämpfer des mittelalterlichen Markts mit Lager in die Zeit, als der Schwörtag seinen Ursprung hatte. OB Keck nannte diesen zum 6. Mal veranstalteten Markt das »Sahnehäubchen« der Schwörfeierlichkeiten. (GEA)