REUTLINGEN. Mode und Nachhaltigkeit können Hand in Hand gehen, doch die Wirklichkeit sieht oft ganz anders aus. Eine Kooperation zwischen der Texoversum Fakultät Textil und dem Friedrich-List-Gymnasium sorgt derzeit für einige Aha-Erlebnisse bei den jungen Teilnehmern des gleichlautenden Seminars. Ausgerechnet hier, wo die Modedesignerinnen oder Fashion-Verkäufer der Zukunft herkommen, werden unter anderem die Schattenseiten von Teilen dieser Branche erläutert. Etwa, weil massenhaft Mode für die Müllkippe hergestellt wird. Die Schüler erfahren aber auch, was sich mit Anstand anziehen lässt.
Die Idee zur Kooperation zwischen Hochschule und Gymnasium gesponnen hatte Marcus Adam, Vertretungsprofessor für Fashion Sales Management und Leiter des Marktforschungslabors. Sein Lehrgebiet ist Nachhaltigkeit in der Textilwirtschaft, die er auch den Kundinnen und Kunden der Zukunft vermitteln möchte. »In der Arbeit mit jungen Menschen sehe ich einen Hebel für Veränderung, weil die in ihren Konsumgewohnheiten noch nicht so festgefahren sind«, sagt Adam. Die Leitung des Friedrich-List-Gymnasiums ist schon vor zwei Jahren daran interessiert, ihren Schülerinnen und Schülern diesen Wissensvorsprung in Form eines Seminarkurses der Oberstufe zu ermöglichen. Gesagt, getan: Der erste Kurs ist erfolgreich gelaufen, der zweite fängt jetzt an. Den Gymnasiastinnen, Frauen sind klar in der Mehrheit, wird einiges geboten.
Infos über nachhaltige Mode
Die Texoversum Fakultät Textil der Hochschule Reutlingen ist mehr als "nur" das topmoderne Texoversum, bei dem es sich übrigens um ein offenes Haus handelt. Einfach mal reinschauen, vielleicht hat sogar der Studentenladen im Erdgeschoss geöffnet. Lohnenswert auch der Blick von der Dachterrasse über den Campus. Studierende und Forschende beschäftigen sich an der Fakultät gleichermaßen mit Fragestellungen aus den Bereichen Globalisierung, Fashion & Lifestyle, Mobility, Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Gesundheit.
Wer sich für Nachhaltigkeitsthemen aus der Sicht von Modeunternehmen interessiert, findet bei der Hugo Boss Group sowie Trigema im Netz einige lesenswerte Beiträge. Beide Unternehmen betreiben klar Reklame, aber dennoch sind etwa ihre Ausführungen zu Biobaumwolle oder Produktion aufschlussreich. Zusätzlich geht es um Themen wie Kreislaufwirtschaft oder die Bekämpfung von Mikroplastik. (zen)
https://www.tex.reutlingen-university.de/
https://www.trigema.de/unternehmen/nachhaltigkeit/
https://group.hugoboss.com/de/nachhaltigkeit
Der Kurs gliedert sich in drei Phasen: zunächst umfassende Einblicke zu den Hintergründen und Problemstellungen von Nachhaltigkeit. Anschließend dürfen individuelle Forschungsthemen - beispielsweise »Wie nachhaltig sind Modeinfluencerinnen?« - gewählt werden. Zum Abschluss kommen die Ergebnisse gemeinsam präsentiert und diskutiert ins Schaufenster. Dies alles spielt sich in Räumen der Texoversum Fakultät Textil ab, was den Reiz zusätzlich erhöht.
So ein Blick in die Maschinenhalle der Textiler auf dem Campus wäre alleine schon einen Ausflug wert. Mit ganz großen Augen stehen die jungen Leute zwischen Baumwoll-Spinnmaschinen. Von Hand zu Hand wandern Baumwollflocken, dann die dickeren Kardenbänder. Wahnsinn, was für ein Aufwand, bis am Ende ein Faden auf der Spule herauskommt. Womit klar ist, dass selbst in einem simplen T-Shirt jede Menge Arbeit steckt. Doch wurde die Baumwolle halbwegs umweltschonend produziert, wurden die Arbeiter fair bezahlt? Das sind die Fragen, um die es geht. Als Leiter des Forschungsschwerpunkts Nachhaltigkeit & Recycling erzählt Kai Nebel den jungen Leuten Unglaubliches.
Milliarden Kleidungsstücke werden produziert
Nebel fragt harmlos: »Was glaubt ihr, wie viele Kleidungsstücke weltweit pro Jahr hergestellt werden?« Die Schätzungen aus der jugendlichen Runde liegen weit unter der Wirklichkeit. »189 Milliarden Kleidungsstücke, aber die Hälfte davon wird nicht mal verkauft«, verrät der Nachhaltigkeitsbeauftragte. Moment mal, hat der Mann gerade gesagt, dass die Hälfte aller produzierten Klamotten direkt auf der Müllkippe landet? Jawohl, hat er! Ungläubiges Kopfschütteln bei den Oberstufenschülerinnen. »Produziert wird meistens irgendwo in Asien, deswegen wird das Zeug auch noch um die halbe Welt gekarrt«, fährt Nebel fort. Den Seminarteilnehmerinnen ist gerade ein Licht aufgegangen.

»Wenig Vorwissen, aber großes Interesse am Thema«, beschreibt Vertretungsprofessor Adam seine guten Erfahrungen mit den Jugendlichen. Auch Lehrer Ingo Koch blickt sehr zufrieden in die Runde: »Das Feedback war durchweg positiv. Vielen hat es richtig gefallen, bei einem Thema in die Tiefe zu gehen.« Worin die Herausforderung in der Vermittlung ökologischer, sozialer und eben auch ökonomischer Nachhaltigkeit liegt, erklärt Adam an der Lebenslage junger Menschen, »für die Klamotten wichtig sind«. Den meisten sei auch bewusst, »dass wir zu viel konsumieren«. Andererseits stelle Shoppen zu gehen, eine völlig normale Freizeitbeschäftigung dar, »das hat sich durch Social Media noch verstärkt«. Angesichts begrenzter Mittel liege es dann ziemlich nahe, Billigware zu kaufen. Spätestens nach dem Besuch in der Maschinenhalle wissen die Seminarteilnehmer dann, dass ein T-Shirt für 2,99 Euro keinesfalls nachhaltig sein kann. Mal hören, was zwei junge Frau zum Seminar sagen, sowie was selbst tragen.
Von den Adidas Retro-Turnschuhen über eine Jeans von Urban Outfitters bis hin zu einer braunen Lederjacke ist Natalie Futter (17) individuell angezogen. »Ich interessiere mich sehr für Mode und Nachhaltigkeit«, sagt sie, »und es macht mir Spaß, mich modisch anzuziehen«. Aber eben nicht um jeden Preis. Ihre Oberbekleidung ist maximal nachhaltig, »von meiner Mutter. Ich gehe auch viel auf Flohmärkte oder in Secondhand-Shops. Ich brauche nicht jeden Trend, damit ich dazugehöre«. So ähnlich sieht das Helena Kretzschmar.
Die 16-Jährige »war ganz viel bei Fridays for Future dabei. Ich mag Mode total gerne und Sachen tragen, in denen man sich wohlfühlen kann«. Auch sie nutzt vorhandene Einzelstücke. Ihre Lederstiefel sind aus Mutters Schuhschrank, die Cordhose von Only hat sie tatsächlich vor Ort in Reutlingen erworben, und ihr Hoodie ist schon drei Jahre alt. Beide Schülerinnen sagen etwas, was zutiefst nachhaltig klingt. Man müsse nur lange genug warten, dann seien alte Kleider wieder top modern, »es kommt alles wieder«. (GEA)
https://www.tex.reutlingen-university.de/