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Reutlinger Leonhardskirche mit ungewisser Zukunft

130 Jahre alt ist die Reutlinger Leonhardskirche seit heute. Ihre Entstehungsgeschichte ist ungewöhnlich und die Zukunft ungewiss: Die am 29. April 1894 eingeweihte Kirche steht seit 2011 leer.

Als »Notkirche« während der Marienkirchen-Sanierung erbaut, am 29. April 1894 eingeweiht, gehört die Leonhardskirche in Reutling
Als »Notkirche« während der Marienkirchen-Sanierung erbaut, am 29. April 1894 eingeweiht, gehört die Leonhardskirche in Reutlingen seit 2011 dem Immobilienunternehmen Dr. Rall - und wird seitdem weder saniert noch irgendwie genutzt. Foto: Frank Pieth
Als »Notkirche« während der Marienkirchen-Sanierung erbaut, am 29. April 1894 eingeweiht, gehört die Leonhardskirche in Reutlingen seit 2011 dem Immobilienunternehmen Dr. Rall - und wird seitdem weder saniert noch irgendwie genutzt.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. »Jesus Christus - gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.« Das biblische Zitat aus dem Hebräerbrief steht in Großbuchstaben am nördlichen Giebel der Reutlinger Leonhardskirche, versehen mit den griechischen Schriftzeichen Alpha und Omega - Anfang und Ende. Seinen Anfang erlebte das klerikale Bauwerk vor 130 Jahren. Am 29. April 1894 weihte Stadtpfarrer Eduard Hermann Ströle das vom Stuttgarter Oberbaurat Heinrich Dolmetsch (1846-1908) erbaute Gotteshaus in der Oststadt »zu einer Stätte des Friedens und der Andacht«.

Es war der erste vollständig neue Kirchenbau nach der Reformationszeit in Reutlingen. Eine Stiftungsurkunde aus dem Jahr 1364 belegt, dass dort bereits im Mittelalter, vor 660 Jahren, eine St.-Leonhards-Kapelle stand. Die war allerdings nicht für die Ewigkeit: Sie wurde 1531 abgebrochen.

Dass auch die heutige Kirche kaum für alle Zeiten halten würde, war von Anfang an klar: Sie wurde als Not- oder Behelfskirche für die fast zehn Jahre dauernde neugotische Renovierung der Marienkirche erstellt. In Riegelfachwerk, auch »Turnhallenbaustil« genannt, denn das war einfach und ging schnell: Die Baukommission stimmte im Mai 1893 für den Bau der Interimskirche am sogenannten Geißhirtentörle - Ecke See- und Burgstraße. Im Juli beschloss das auch der Kirchengemeinderat, am 6. Oktober kam die Genehmigung vom Evangelischen Konsistorium in Stuttgart - und am 14. November 1893 war schon Richtfest. Baukosten: 43.183 Mark.

Aus dem Interimsbauwerk wird eine Parochialkirche

Der Andachtsraum bot 1.140 Gläubigen Platz, war aber nie als Pfarrkirche gedacht. Das Provisorium sollte Dolmetsch zufolge mindestens 60 Jahre halten. Doch nachdem die Marienkirche 1901 wieder in alter Pracht erstrahlt war, blieb auch die Leonhardskirche als Gemeindekirche erhalten. Denn die Stadt dehnte sich nach Osten und Süden weiter aus, die Zahl der evangelischen Gemeindeglieder wuchs - und so wurde der provisorische Bau 1908 eine selbstständige Parochialkirche mit eigenem Geistlichen, Kirchengemeinderat und Kirchenchor.

So sah die Reutlinger Leonhardskirche ursprünglich aus.
So sah die Reutlinger Leonhardskirche ursprünglich aus. Foto: Stadtarchiv Reutlingen
So sah die Reutlinger Leonhardskirche ursprünglich aus.
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Doch schon 30 Jahre später standen erste Renovierungsarbeiten an. Als einschneidendste Veränderung wurde 1939 das Chorfenster an der südlichen Fassade entfernt, da das hereinfallende Licht die Gottesdienstbesucher beim Blick auf Altar und Kanzel geblendet hatte. Die Freifläche schmückte daraufhin der Künstler Rudolf Yelin der Jüngere aus Stuttgart mit einer Wandmalerei: Sie zeigt den Gekreuzigten mit vier Zeugen - Jesaja, Johannes der Täufer, Paulus und Luther.

Glocken und Bomben setzen ihr zu

Da die Wände im Zweiten Weltkrieg durch Bombenangriffe Risse bekommen hatten, wurde der Kirchenrat Georg Kopp "unerträglich schützenhausmäßig" erscheinende Bau "1963 unter der Leitung von Professor Yelin auch innen gründlich renoviert. Danach lobte der damalige Prälat Kurt Pfeifle, nun sei es erst "wirklich eine Kirche".

Wegen des äußerlich schlechten Zustands wollte die Kirchengemeinde das Bauwerk immer mal wieder abreißen. 1971 wurde das Fachwerk des Kirchenschiffs verputzt, 1979 der Turm mit Zedernholzschindeln verkleidet, da der Putz dort ständig herabrieselte. Die direkt am Gebäude befestigten Glocken rüttelten unerbittlich an dessen Substanz. Wie sich heute bestätigt, sind Schindeln belastbarer. Die Turmspitze wurde anstelle von Schieferplatten mit Kupfer umhüllt.

In einem Bautagebuch, das in einer Ausstellung des Stadtarchivs 1994 zum 100-Jährigen zu sehen war, wurden »die täglichen Handwerkerarbeiten minutiös aufgezeichnet«. Und doch galt die Kirche schon lange als »Blickfang«. Aus dem Behelfsbau ist ein Kulturdenkmal geworden.

Viele Reutlinger verbinden damit bis heute Erinnerungen - an die Hochzeit der Eltern und Großeltern, die eigene Konfirmation, die Bücherstube, Konzerte, Gemeindefeste, bis hin zu einem »Grusical« im Jahr 2000. »Da hängen viele Herzen dran« - das weiß auch Baubürgermeisterin Angela Weiskopf.

Von Alpha bis Omega, gestern und heute und in Ewigkeit - das gilt in der Vorstellung von Christen für Jesus. Nicht jedoch für di
Von Alpha bis Omega, gestern und heute und in Ewigkeit - das gilt in der Vorstellung von Christen für Jesus. Nicht jedoch für dieses Kirchenbauwerk: Die Reutlinger Leonhardskirche sollte 1971 schon abgerissen werden. Heute steht sie zwar unter Denkmalschutz, bröckelt jedoch ungenutzt vor sich hin. Foto: fop
Von Alpha bis Omega, gestern und heute und in Ewigkeit - das gilt in der Vorstellung von Christen für Jesus. Nicht jedoch für dieses Kirchenbauwerk: Die Reutlinger Leonhardskirche sollte 1971 schon abgerissen werden. Heute steht sie zwar unter Denkmalschutz, bröckelt jedoch ungenutzt vor sich hin.
Foto: fop

Das Denkmalamt hat die »dreischiffige Basilika, verputzter Fachwerkbau über kreuzförmigem Grundriss« mit ihrem holzverschindelten Turm im Osten »mit vierseitigen Giebeln und spitzem Helm mit Laterne« unter Schutz gestellt. Die Marienkirchengemeinde hat sie 2010 aber aus Spargründen entweiht. Das Reutlinger Immobilienunternehmen Dr. Rall kaufte die Kirche - und hatte zunächst Großes damit vor: Eine Mischung aus Wohnungen, Büros und einem Café im Kirchenschiff sollte entstehen, in einer Mischung aus historischer Bausubstanz und modernem Anbau.

Verkauf, Umbaupläne - und zurück auf Los

Der Kaufpreis für die entweihte Kirche war keineswegs nur symbolisch, erklärt Geschäftsführer Dr. Claudius Rall. Drei Jahre lang habe man danach das Gebäude detailliert untersucht und Konzepte entwickelt. Da sich die Pläne des privaten Investors an die jüngsten Vorhaben der Kirchengemeinde anlehnten und auch deren Architekt weiter mit im Boot war, wähnte man sich auf der sicheren Seite. Zumal alles mit dem Landesdenkmalamt abgestimmt war.

Doch dann entschied die Stadt, das ganze Areal, für das es bislang nicht mal einen Bebauungsplan gab, neu zu gestalten. Ein städtebaulicher Wettbewerb wurde ausgelobt - das Prozedere zog sich. Und mit der zuständigen Person im Denkmalamt änderte sich schließlich die Einschätzung der Förderwürdigkeit nach dem geplanten Umbau.

Jugend- und Kirchenchor sowie Orchester musizieren beim Jubiläumskonzert zum 100-jährigen Bestehen der Leonhardskirche im April
Jugend- und Kirchenchor sowie Orchester musizieren beim Jubiläumskonzert zum 100-jährigen Bestehen der Leonhardskirche im April 1994 vor vollbesetzen Kirchenbänken mit Blick auf das Wandbild von Rudolf Yelin d.J. Foto: Margitta Raach
Jugend- und Kirchenchor sowie Orchester musizieren beim Jubiläumskonzert zum 100-jährigen Bestehen der Leonhardskirche im April 1994 vor vollbesetzen Kirchenbänken mit Blick auf das Wandbild von Rudolf Yelin d.J.
Foto: Margitta Raach

Doch ohne Finanzspritze von den Denkmalschützern gehe es nicht, sagt Rall. Die werde dem Unternehmen versagt, da es das hintere Seitenschiff zugunsten eines Neubaus abreißen will. Und ins Hauptschiff Zwischenböden einziehen.

Beides würde in Ralls Augen die Ansicht vom Leonhardsplatz nicht verändern, wäre aber etwa in puncto Brandschutz und Heizen die beste Lösung. Es brauche Kompromisse, denn: »Es gibt niemanden, der eine solche Sanierung bezahlen kann.« Da gehe es um Millionen. »Wir sind damit wieder zurück auf Los.«

Sein Vater wurde dort konfirmiert, er getauft, erzählt Claudius Rall. Der Kauf war für das Reutlinger Familienunternehmen also auch eine Herzensentscheidung, die mit Heimat zu tun hat. Die Entscheidung fiel, als sie gerade erfolgreich dabei waren, die Alte Feuerwache zu sanieren. Auch da sei anfangs kritisiert worden, »dass das ein Privater macht«. Aber am Ende waren alle zufrieden: Stadt, Gemeinderatsfraktionen und Denkmalamt.

Es brauche alle drei dazu, sonst funktioniere es nicht, sagt der Immobilienunternehmer. »Die stellen einen schon vor Aufgaben«, blickt er zurück. Sehr viel Mühe habe das gemacht. »Aber man kann's schaffen.« Denkmalprojekte sind nie die allerwirtschaftlichsten: »Ein bissle Idealismus braucht man schon dazu.«

2022 war die Zukunft der Leonhardskirche letztmals Thema im Bauausschuss. Zum runden Geburtstag steht sie leer und bröckelt vor sich hin. An der Nordseite mit dem Hebräer-Spruch liegt zum Teil das Fachwerk wieder offen, ein grünes Netz fängt herabfallenden Putz auf. Omega, das Ende, scheint nah. Zufrieden ist der Eigentümer damit nicht.

Und die zuständigen Behörden? »Wir würden es sehr begrüßen, wenn die Kirche denkmalgerecht saniert wird und eine neue adäquate, zum Leonhardsplatz und in die Oststadt passende, Nutzung erfährt«, teilt die Stadtverwaltung auf Nachfrage mit. Dabei wolle man »den Eigentümer selbstverständlich auch planungsrechtlich unterstützen«.

Das Landesdenkmalamt in Stuttgart sieht sich »aufgrund von personellen Engpässen« aktuell außerstande, eine Stellungnahme abzugeben. Immerhin versichern Angela Weiskopf ebenso wie Claudius Rall: »Das Gebäude wird erhalten und gesichert.« Die Bausubstanz sei gut, besser als es scheine, sagt Rall. Aber es brauche verlässliche Rahmenbedingungen und guten Willen auf allen Seiten. Denn, daraus macht er keinen Hehl: »Es gab eine Zeit, wo solch ein Vorhaben viel leichter zu realisieren gewesen wäre als heute. Aber wir sind dabei und haben einen langen Atem.« (GEA)