REUTLINGEN. Das Kriegsende in Reutlingen – Kämpfe, Besatzung und dann die Übergabe der Stadt durch den späteren Oberbürgermeister Oskar Kalbfell: Viel wurde dazu geschrieben und geforscht, Legenden sind entstanden. Der Mythos vom »Panzersprung« Kalbfells begründete seinen Ruf als »Retter der Stadt« und »Mann der Stunde«. Doch war es wirklich so?
Ein Blick in die Quellen eröffnet Raum für Spekulationen und gibt Stoff her für Legendenbildungen, wie Stadtarchivar Roland Deigendesch am 14. Dezember 2021 in einem Beitrag im GEA sagte. Damals erschien in den Geschichtsblättern ein Beitrag des Historikers und Journalisten Lukas Weyell, der dem Mythos Kalbfell, zumindest was das Kriegsende betraf, einige Kratzer zufügte. Doch was ist wirklich passiert in jenen Tagen, als Reutlingen von den Franzosen erobert wurde?
Am Morgen des 19. April 1945 besetzen französische Truppen Tübingen. Es ist klar, dass Reutlingen das nächste Ziel wird. In der Nacht fliegen Jagdbomber, eine Tagebuchschreiberin notiert: »19. 4. 1945: Der Tag verlief in größter Spannung, man wartete auf die Alliierten, und man regt sich auf, ob die Stadt wohl verteidigt wird oder nicht.« Am 20. April rücken französische Bodentruppen dann bis nach Betzingen vor.
Die öffentliche Ordnung kommt zum Erliegen: Das Proviantamt wird geplündert, viele fürchten weiteres Blutvergießen. Hatte doch die NS-Führung der Stadt die Bürger in den Tagen vor dem Einmarsch massiv eingeschüchtert. »Auf das Beseitigen von Panzersperren oder das Hissen weißer Fahnen stand die Todesstrafe«, schreibt der GEA in einem Artikel zu 75 Jahre Kriegsende 2020. Die »Kampfgruppe Kimmich« leistet weiter Widerstand, um den Vormarsch der französischen Truppen aufzuhalten.
Und dies war nun die Stunde Oskar Kalbfells, Kaufmann aus Betzingen und vor der NS-Zeit Stadtrat mit SPD-Parteibuch. Er gehörte zur sogenannten Reutlinger Widerstandstruppe, deren Ziel es unter anderem war, Verfolgten Schutz zu gewähren und Terrormaßnahmen der NSDAP unwirksam zu machen. Sie hatten aber auch für das Kriegsende Vorkehrungen getroffen, um das Funktionieren der Stadt sicherzustellen.
Um weitere Opfer zu vermeiden, tritt Oskar Kalbfell, eine weiße Fahne hissend, den französischen Panzern entgegen. »Ihm war es gelungen, mit dem Kommandeur der einrückenden Panzertruppe (…) im vordersten Panzer zu sprechen. Oskar Kalbfell versicherte hierbei dem Kommandanten, er bürge mit seinem Leben dafür, dass die Stadt kampflos übergeben werde, wenn keine weitere Beschießung (…) mehr erfolge. Der Kommandant nahm das Anerbieten positiv auf und befahl Oskar Kalbfell, den französischen Führungspanzer zu besteigen.« Sie fahren auf den Marktplatz, Kalbfell auf dem vordersten Panzer mit dabei, Bürgermeister Dr. Allmendinger, Stellvertreter des nationalsozialistischen Oberbürgermeisters Dr. Dederer, übergibt die offiziell an die französischen Besatzer. Noch am gleichen Abend wird Kalbfell zum kommissarischen Oberbürgermeister ernannt.
Recherche in Militärarchiven
Grundlage der Berichte über diese letzten Tage vor Kriegsende war lange eine »offiziöse Version«, die im »Verwaltungsbericht der Stadt Reutlingen 1945-1965« veröffentlicht worden war, aus der auch obige Passage stammt – abgesegnet von OB Kalbfell selbst. Doch dann durfte Lukas Weyell im Jahr 2017 für seine Masterarbeit in französischen Militärarchiven recherchieren. 2021 verfasste er in den Reutlinger Geschichtsblätter einen Artikel über Kalbfells Rolle bei der Eroberung und rückte einiges in ein neues Licht. Sein klares Fazit: »Einige Aspekte des Mythos um Kalbfell stimmen nicht.«
Gleich vorweg: Die Geschichte mit der weißen Fahne ist wahrscheinlich so passiert. Doch von einer friedlichen Übernahme der Stadt dank dieses heldenhaften Einsatzes könne nicht die Rede sein, urteilt der Historiker. Ganz im Gegenteil: Die Eroberung lief sogar besonders blutig ab. »Die Deutschen verteidigen Reutlingen mit Verbissenheit«, heißt es in den Militärberichten. Der Volkssturm hat Panzersperren in Betzingen errichtet, die Franzosen benötigen einen ganzen Tag, um bis in die Innenstadt zu gelangen. Erst am 21. April sind sie Herr der Lage. »Sie attackierten die Stadt mit Tieffliegern und Artillerie. Die Panzer schossen zeitweise auf alles, was sich bewegte«, so Weyell. Das hört sich freilich anders an als die Berichte, in denen die Stadt friedlich an die Franzosen übergeben wurde. Auch den Volkssturm und die Hitlerjugend hatte Kalbfell keineswegs so gut im Griff, wie es gerne dargestellt wurde.
Für Lukas Weyell besteht kein Zweifel, dass die Angaben aus den Militärarchiven stimmen – es »sind klare, nüchterne Schilderungen dessen, was passiert ist«. Dadurch gerät auch eine weitere Heldentat Kalbfells in Zweifel: der angebliche geplante Beschuss der Stadt durch 200 Bomber, die dank seines Handelns verhindert werden konnte. Weyell zweifelt daran, dass diese Gefahr überhaupt bestanden hat. Zum einen hatten die Franzosen nicht genügend Bomber, zum anderen findet sich nichts in den Aufzeichnungen.
Was bleibt nun? Einiges an der Legende um Kalbfell scheint geschönt, dennoch leistete er Enormes. »Er war ein unverdächtiger Mann mit antifaschistischer Vergangenheit, der über genügend Tatkraft und Wagemut verfügte, im entscheidenden Augenblick sein Leben in die Waagschale zu werfen«, schreibt Hans-Georg Wehling in seinem biographischen Versuch 1994 über Kalbfell. Auch Deigendesch sieht es so: Es sei unstrittig, dass er auf die Panzer zuging und konnte damit mit ziemlicher Gewissheit noch größere Zerstörungen verhindern. »Dass dazu außergewöhnlicher Mut gehört, steht außer Frage.« (GEA)