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Aktuell Engagement

Reutlinger Kindern von Suchterkrankten setzt Lockdown sehr zu

Der Reutlinger Verein »Vergessene Kinder« kümmert sich um Nachwuchs in Familien mit psychisch oder suchtkranken Eltern.

Kontaktsperre, Homeoffice und Kinderbetreuung überfordern Familien und lässt die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt steigen. F
Kontaktsperre, Homeoffice und Kinderbetreuung überfordern Familien und lässt die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt steigen. Foto: Deutsche Presse Agentur
Kontaktsperre, Homeoffice und Kinderbetreuung überfordern Familien und lässt die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt steigen.
Foto: Deutsche Presse Agentur

REUTLINGEN. Beim ersten Lockdown ab März des vergangenen Jahres haben Sabrina Dürr und Carolin Lutz genau das erlebt, was von offizieller Seite wie etwa dem Jugendamt gar nicht wahrgenommen werden konnte – weil die Kontrollinstanzen wie Kindergärten, Schulen, Ärzte fehlten. Die beiden Reutlinger Sozialarbeiterinnen waren hingegen ganz nah dran an den Familien. Dürr und Lutz kümmern sich mit zwei weiteren Fachkräften um zwei Gruppen, in denen Kinder aus Familien betreut werden, deren Eltern unter einer psychischen Krankheit leiden oder unter einer Suchtabhängigkeit. »Wir konnten ab März 2020 den direkten Kontakt zu den Kindern nicht mehr aufrechterhalten«, sagt Sabrina Dürr.

Telefonisch oder – wo möglich, per Videogespräch – meldeten sich die beiden Fachfrauen dennoch bei den Familien. »Die Unsicherheit war in den Familien im ersten Lockdown noch deutlich größer als jetzt seit Dezember«, berichtet Carolin Lutz. »Es gab im ersten Lockdown ganz viele Krisen, manche Familien sind an den Anforderungen zerbrochen.« Eine Klientin mussten die Sozialarbeiterinnen zusammen mit den Kindern wegen häuslicher Gewalt sogar ins Frauenhaus bringen. »Der Mann war nicht gerade erfreut, als wir seine Familie abholten«, sagt Sabrina Dürr. »Wir arbeiten mit sehr gestressten Familien, für manche ist im vergangenen Frühjahr die Welt zusammengebrochen.« Weil Kinder und Erwachsene wochenlang in der Wohnung quasi aufeinandersaßen, hätten sich die Konflikte stark gehäuft.

AKTIONSWOCHE FÜR KINDER AUS SUCHTFAMILIEN

Lockdown und Kontaktbeschränkung: Mehr Stress in den Familien

Vom 14. bis zum 20. Februar 2021 wird bundesweit dazu aufgerufen, »Vergessenen Kindern« eine Stimme zu geben. Im Aufruf werden Zahlen und Fakten genannt: »Etwa drei Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland in einem Haushalt mit suchtkranken Eltern auf. Für sie stellten und stellen die Lockdowns und Kontaktbeschränkungen der vergangenen Monate eine besondere Belastung dar. Der Stress in den Familien stieg und damit auch der Alkohol- und Drogenkonsum der suchtkranken Eltern. Gleichzeitig verstärkte die Schließung von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen die Isolation der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Und die Schließung von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen verstärkte die Isolation der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Sie suchten mehr Hilfe bei Beratungsangeboten im Internet, die es auszubauen gilt. Doch auch ein verbessertes Online-Angebot kann den persönlichen Kontakt zu Fachkräften vor Ort nicht ersetzen. Nach wie vor stehen Bund, Länder und Kommunen in der Pflicht, ein flächendeckendes und regelfinanziertes Hilfesystem aufzubauen.«

Spenden für die Arbeit des Vereins »Vergessene Kinder« sind über IBAN: DE09 64050000 0000 572239 bei der Kreissparkasse Reutlingen, BIC: SOLADES1REU, möglich. (nol)

Zwei Gruppen mit jeweils acht bis zehn Kindern betreuen die vier Sozialarbeiterinnen außerhalb von Corona in wöchentlichen Gruppenstunden. »Im Sommer konnten wir den Betrieb dann wieder aufnehmen, aber nur in Kleingruppen mit je vier Kindern«, so Lutz. Schon vorher hätten die Familien signalisiert, dass sie den Kontakt sehr vermissen. Manches Mal haben Lutz und Dürr die Kinder bei ihnen zu Hause aufgesucht.

»Die Eltern sagen,sie kriegen das gerade noch hin«

Im Sommer waren die Gruppenstunden fast nur draußen, auf einem Bauernhof, auf Spielplätzen, im Freien eben. Seit Dezember produzieren Sabrina Dürr und Carolin Lutz kleine Videos und schicken sie an die Kinder. Das Feedback laufe dann meist nur über die Eltern. Ob die Spiele oder sportlichen Übungen ankamen und tatsächlich von den Kids gemacht wurden, blieb zumeist offen.

»Beim zweiten Lockdown jetzt ist die Unsicherheit in den Familien nicht mehr ganz so groß«, erzählt Dürr. »Im Moment ist es relativ ruhig, die Eltern sagen, sie kriegen das gerade noch hin und halten bis zu den Faschingsferien durch.« Aber dann? »Für die Eltern ist es eine große Entlastung, wenn ihre Kinder einen Raum haben, in dem sie über die Erkrankung der Eltern sprechen können«, so Lutz. Wichtig sei aber auch, dass die Kinder mit anderen zusammenkommen, die Gleiches oder Ähnliches erleben, die wissen, wie es ist, in einer Familie mit einer psychisch kranken Mutter oder einem alkoholabhängigen Vater zu leben. »Es geht bei unserer Arbeit darum, die Resilienz der Kinder zu stärken.«

Als die Gruppen im Sommer wieder starteten, sei deutlich bemerkbar gewesen, wie die Kinder den Kontakt zu den anderen Gruppenmitgliedern vermisst haben. »Wir haben mit unserer Arbeit eine Vermittlerfunktion, wir sind nicht vom Jugendamt, bieten einen Vertrauensrahmen für die Kinder – aber wir brauchen auch das Okay der Eltern«, so Sabrina Dürr.

Seit wenigen Jahren hat die Nachfrage nach Teilnahmeplätzen in den Gruppen deutlich zugenommen, sagen die Fachfrauen. »Wir haben nur ein wenig Werbung gemacht und haben jetzt eine Warteliste mit fast 20 Kindern.« Der Bedarf sei groß, spürbar und nicht wegzureden. Die Finanzierung der Arbeit funktioniere allerdings bislang nur über Spenden. Während der »Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien« wollen die Sozialarbeiterinnen einige Aktionen starten, »das soll was für die Kinder bringen«, sind sich die Fachfrauen einig. (GEA)