REUTLINGEN. Über den Ukraine-Krieg redet seit dem Angriff der Hamas auf Israel kaum noch jemand, über die Rüstungsexporte ins Kriegsland schon gar nicht. In der evangelischen Landeskirche Württemberg gibt es eine Gruppierung, die ihre Stimme erhebt – gegen eine militärische Konfliktlösung, für die Aufnahme von Friedensverhandlungen. In ihrem Appell zur Friedensdekade, die am heutigen Buß- und Bettag endet, positionieren sie sich glasklar gegen den Krieg und berufen sich dabei zentral auf die Friedensbotschaft Jesu. Zu den insgesamt 273 Unterzeichnern gehören 72 Pfarrerinnen und Pfarrer. Nur 5 Prozent der Landeskirche, eine sehr überschaubare Gruppe also, räumt Mit-Initiatorin Susanne Büttner ein. Doch der evangelischen Pfarrerin und ihren Mitstreitern geht es nicht um Mehrheiten. »Unser Ziel ist es, dass man darüber spricht, dass es noch andere Perspektiven für diesen Konflikt gibt.«
Kontrapunkt zur Mehrheitsmeinung
Große Teile der Landeskirche, kritisiert die Dekanin im Justizvollzug Baden-Württemberg und frühere Reutlinger Asylpfarrerin, sagten nicht viel anderes als die Politik, stellten die militärische Unterstützung der Ukraine also nicht infrage. Die Unterzeichner des zweiten Friedensaufrufs nach 2022 setzen bewusst einen Kontrapunkt zur Mehrheitsmeinung: Sie beziehen Stellung gegen den Krieg und weitere Waffenlieferungen, hinterfragen die Rolle des Westens, fordern Deeskalation, Versöhnung – wohl wissend, dass sie damit, so Büttner, »gewagte Positionen« einnehmen und sich angreifbar machen.
Alternativen aufzeigen
Naiv, weltfremd, Putinfreunde – so lautete dann auch die Kritik an den Forderungen. Aber ist es wirklich naiv, nicht auf einen militärischen Sieg oder ein Zurückdrängen Russlands zu setzen, fragt Professor Dr. Martin Plümicke von der Reutlinger »Offenen Kirche«, der den aktuellen und auch den Vorgänger-Aufruf unterschrieben hat. Seine Einschätzung: »Ich glaube nicht, dass das zum Ziel führt.« Die Frontlinien hätten sich seit Kriegsausbruch nicht verschoben, aber die Zahl der Toten, Verstümmelten, Verletzten steige immer weiter.»Man muss ausloten, ob es auch andere Möglichkeiten gibt.« Kirche, so das Mitglied der Landessynode, müsse keine Realpolitik machen, aber »Alternativen aufzeigen, die man diskutieren kann«.
Gehe es darum, über andere Wege als einen Stellungskrieg nachzudenken, bedeute das auch, die russischen Interessen ernst zu nehmen, meint Martin Plümicke. Alle seien sich einig, dass der russische Angriffskrieg völkerrechtswidrig und »ohne Wenn und Aber« zu verurteilen sei, stellt Dr. Jörg Barthel, Professor an der Theologischen Hochschule Reutlingen, klar. Aber, so Barthel: »Was fehlt, ist ein selbstkritisches Nachdenken, inwieweit auch die westliche Seite dazu beigetragen hat.«
Vorrang für gewaltfreie Konfliktlösungen
Den Aufruf habe er unterschrieben, weil gewaltfreie Konfliktlösungen Priorität haben müssten. »Aber das ist vollkommen ins Hintertreffen geraten.« Wer Frieden wolle, müsse ihn vorbereiten und nicht den Krieg eskalieren. Den Friedens-Appell sieht er nicht als Strategiepapier, aber als politisch durchaus realistisch. Denn, so der Professor: »Die bisherige Strategie droht mit einer vernichtenden Niederlage der Ukraine oder schlimmstenfalls im atomaren Holocaust zu enden.«
Wie Martin Plümicke geht es ihm als Unterstützer des Aufrufs vor allem darum, »dass das hunderttausendfache Sterben und Töten von Zivilisten, aber auch von Soldaten beider Seiten endet«. Er sehe es, so Barthel, als »Aufgabe von Christinnen und Christen, die biblische Option für Frieden und Gewaltlosigkeit klar und deutlich in den Streit der Meinungen einzubringen, auch wenn sie sich damit gegen den Trend stellen«. (GEA)
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