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Reutlinger Führung: Die Tour des Grauens

Um Mord und Totschlag im Laufe der Jahrhunderte geht es bei einer Führung durch die Reutlinger Innenstadt

Rainer Krimmel vertieft sich für seine Führung gerne in historische Bücher.
Rainer Krimmel vertieft sich für seine Führung gerne in historische Bücher. Foto: Nadine Nowara
Rainer Krimmel vertieft sich für seine Führung gerne in historische Bücher.
Foto: Nadine Nowara

REUTLINGEN. »Ich brauche was zu tun im Ruhestand«, sagt Rainer Krimmel, ehemaliger Lehrer am Reutlinger Wirtschaftsgymnasium. Der 78-jährige Reutlinger ist seit etwa zehn Jahren als Stadtführer unterwegs. Vor einem Jahr übernahm er vom ehemaligen Stadtführer Peter Bay die Themenführung »Mord und Totschlag«. Krimmel stürzte sich in die Recherche und wurde im Stadtarchiv und in den Reutlinger Geschichtsblättern fündig. »Das ist keine voyeuristische Führung«, hebt er hervor. Es gehe vielmehr darum, welcher Mord oder Totschlag Auswirkungen auf die Stadtgesellschaft hatte. Bei solch einem spannenden Thema seien die Teilnehmer sehr konzentriert und interessiert, sagt er. Kein Wunder, denn die Fälle sind sehr unterschiedlich und zeigen die ehemalige Reichsstadt von einer dunklen Seite.

Etwas besonders Tragisches ereignete sich 1828 im Pfarrhaus neben der Marienkirche. Der Pfarrhelfer Josef Brehm hatte seine Magd geschwängert. Um die Geburt des Kindes zu verheimlichen, tötete er das Neugeborene. Er drehte dem Kind regelrecht den Hals um und verscharrte es im Keller. Anschließend taufte er andere Kinder. Die Tat zu verheimlichen gelang ihm nicht. Das Gerücht, dass die Magd schwanger sein könnte, hatte die städtische Behörde auf den Plan gerufen. »Ein Grund für den Kindsmord war neben der gesellschaftlichen Schande auch der Geiz des Vikars. Er hätte die Magd auch wegschicken können und Alimente zahlen«, gibt Krimmel zu bedenken.

Die Magd, die den Kindsmord nicht verhindern konnte, landete für sechs Jahre im Zuchthaus. Auf Brehm wartete das Todesurteil. Hinrichtungen fanden zu der Zeit auf dem »Käs«, einem Platz in der Nähe des Friedhofs unter den Linden vor den ehemaligen Mauern der Stadt statt. »Dass ein Pfarrhelfer ein Todesurteil bekam, war etwas Besonderes. Es gab so einen großen Zulauf des Volkes, dass man die Stadttore schließen musste«, berichtet Krimmel. Brehm wurde, wie viele andere auch, durch das Richtschwert, das eine Klinge von einem Meter Länge hatte, hingerichtet. Dies hatte keine Stechspitze, sondern war an den Seiten geschliffen. Es war die letzte öffentliche Hinrichtung in Württemberg. Das Schwert ist heute im Heimatmuseum ausgestellt.

Das Thema Gerichtsbarkeit nimmt eine wichtige Rolle in Krimmels Führung ein. Für die niedrige Gerichtsbarkeit waren lange Laienrichter zuständig. Erst mit dem Code Napoleon gab es im 19. Jahrhundert ein bürgerliches Gesetzbuch. »Die Gesetze davor waren weit interpretierbar«, sagt Krimmel. »Den Glauben an Resozialisierung gab es damals noch nicht.«

»Es war eine Schande, wenn der Kopf nicht beim ersten Hieb fiel«

Die hohe Gerichtsbarkeit, das sogenannte »Blutgericht«, wurde hinzugezogen, wenn es um Vergehen wie schweren Raub, Mord und Totschlag ging. Hier war eine »Körperstrafe« vorgesehen. Die Vorgabe »kein Urteil ohne Geständnis« brachte es mit sich, dass auch mal die Daumenschrauben angelegt wurden. Auch die Streckbank oder das Zwicken mit teils glühenden Zangen gehörte zur Praxis des Scharfrichters. Das geschah nicht im rechtsfreien Raum, sondern unter der Aufsicht des Magistrats, der Stadtverwaltung. Der Henker musste auch das Enthaupten regelmäßig üben, zum Beispiel an Tieren, erklärt Krimmel. »Es war eine Schande, wenn der Kopf nicht beim ersten Hieb fiel. Der Henker wurde dann geächtet.« Auf der anderen Seite hatte ein Henker sehr gute Einnahmen.

Bei Wirtschaftsschlägereien und dergleichen gab es jedoch häufig bis ins 16. Jahrhundert hinein eine sogenannte Mediation. Die Familie des Opfers bei einem Totschlag bekam einen wirtschaftlichen Ausgleich. Um die Erinnerung an die Tat am Leben zu erhalten und auch um das Seelenheil des Getöteten zu erreichen, mussten Sühnekreuze aufgestellt werden, oft an Wegekreuzungen in der Nähe. Einen Ausgleich gab es hingegen bei einem Gerichtsfall nicht. Das Vermögen des zu Tode Verurteilten wurde zwischen Gericht und Magistrat aufgeteilt.

Ein Totschlag hatte besonders weitreichende Folgen. 1519 kam bei einer Schlägerei mit Messerstecherei im Gasthof Bären auf dem Marktplatz der Burgvogt ums Leben. In dem Streit ging es um einen Freund der zwei Papiermacher, die den Burgvogt angegriffen hatten. Dieser war wegen Wilderei inhaftiert worden. Herzog Ulrich von Württemberg nahm daraufhin die Stadt Reutlingen in einem mehrtägigen Kampf ein. Die »Fremdherrschaft« durch Württemberg dauerte nur kurze Zeit und wurde unter Mithilfe des »Schwäbischen Bundes« aufgehoben. Herzog Ulrich musste außer Landes fliehen und konnte erst 15 Jahre später zurückkehren.

Die Papiermacher erhielten bis zu ihrem Prozess im Franziskaner Kloster (dem heutigen List-Gymnasium) ein »Asyl als Totschläger«. Es war über viele Jahre ein Zufluchtsort, gegen eine Gebühr. Die »ehrlichen Totschläger« wurden so vor Blutrache geschützt. Zwischen 1515 und 1804 suchten etwa 2.500 Personen um Asyl nach – von Oberbayern bis zum Elsaß. »Alle Totschläger waren natürlich nicht vorm Gericht geschützt«, sagt Krimmel.

»Den Glauben an Resozialisierung gab es damals noch nicht«

Die Hexenverfolgung ist ein ganz düsteres Kapitel in der Reutlinger Geschichte. Die »Hexen« mussten ihre Wasserprobe in der Echaz bestehen. In Württemberg wurden in den mehr als 120 Jahren der Hexenverfolgung – von 1540 bis 1683 – insgesamt 256 Menschen der Prozess gemacht. Allein in Reutlingen starben 64 »Hexen« und »Hexer« bei der Hinrichtung. 25 Prozent der Fälle in Württemberg, erklärt der Stadtführer.

Ab 1524 war Reutlingen eine protestantische Stadt. Die Hexenverfolgung sei ein gesamtgesellschaftliches Thema und nicht nur ein katholisches gewesen. Auffallend viele Hexenprozesse gab es wegen einem besonders eifrigen Akteur, Amtsbürgermeister Laubenberger, der Ende des 17. Jahrhunderts tätig war.

Im Gartentor wurden die Frauen und Männer eingesperrt bis zu den Prozessen. Für ihre Untersuchungshaft waren sie dort untergebracht, wo man auf der Stadtinnenseite die vergitterten Fenster sieht. Heute hat der Narrenverein diese Räume angemietet. Eine Hexenpuppe ist dort auch ausgestellt. Einmal im Monat wird dieser Ort zu einer Gastwirtschaft.

Führungen können beim Reutlinger Stadtmarketing gebucht werden. (GEA)

 

https://www.reutlingen.de/ stadtfuehrungen