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Reutlinger Corona-Demo: Auch Gaffen kann teuer werden

Verstoß gegen Versammlungsgesetz: Amtsgericht verhandelt erste Einsprüche gegen Bußgeldbescheide

Weil sie trotz Aufforderung durch die Polizei ihren Beobachtungsposten am Nordsternhaus nicht verlassen hat, muss eine junge Fra
Weil sie trotz Aufforderung durch die Polizei ihren Beobachtungsposten am Nordsternhaus nicht verlassen hat, muss eine junge Frau ein Bußgeld zahlen. FOTO: MEYER
Weil sie trotz Aufforderung durch die Polizei ihren Beobachtungsposten am Nordsternhaus nicht verlassen hat, muss eine junge Frau ein Bußgeld zahlen. FOTO: MEYER

REUTLINGEN. Eine verbotene Demonstration von Gegnern der Coronaschutzmaßnahmen am 18. Dezember, die zeitweise die halbe Innenstadt lahmlegte, beschäftigt jetzt die Justiz. Und das nicht zu knapp: Im Nachgang verschickte die Stadt 500 Bußgeldbescheide wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz, 251 Personen legten Einspruch ein. Am Reutlinger Amtsgericht laufen jetzt die ersten Prozesse an, allein am vergangenen Donnerstag verhandelte Richter Sierk Hamann drei Einsprüche in Folge. Eine Verhandlung wurde eingestellt, eine vertagt. In der dritten wurde der Einspruch einer jungen Frau abgewiesen, Hamann verurteilte sie zu einem Bußgeld in Höhe von 50 Euro.

Die beiden ersten Verhandlungen gingen schnell über die Bühne, weil bei einer der Dolmetscher, bei der anderen Zeugen fehlten. Beim dritten Fall nahm sich Hamann – diesmal in seiner Funktion als Jugendrichter – viel Zeit. Vor ihm saß eine 18-Jährige, die sich nach eigenen Angaben am 18. Dezember mit ihrer Mutter in der Stadt getroffen hatte. Ihr jüngerer Bruder war schon dort. »Er hat mir von den Pferden und der vielen Polizei vor der Stadthalle erzählt. Das wollte ich mir angucken.« Was sie auch tat, etwas erhöht vom Platz vor dem Nordsternhaus aus, wo schon etwa 30 oder 40 Menschen das Spektakel beobachteten.

»Ich habe mich nicht angesprochen gefühlt«

Als die Situation immer brenzliger wurde, weil Demonstranten unkontrolliert auf der viel befahrenen Durchgangsstraße herumliefen, begann die Polizei mit Absperrungen und Einkesselungen. Mehrfach gab es Durchsagen, die Straßen zu räumen und den Platz zu verlassen. Das, räumte die junge Frau ein, habe sie gehört. »Aber ich habe mich nicht angesprochen gefühlt.« Irgendwann entschloss sie sich doch zum Gehen, weil, so die 18-Jährige, die Mutter zur Nachtschicht musste. Doch da war der Platz schon abgesperrt, es gab kein Durchkommen mehr. Die Polizei stellte die Personalien fest, kurz darauf kam der Bußgeldbescheid. Mit den Demonstranten, beteuerte sie, habe sie nichts zu tun.

Fünf Polizeibeamte, die an dem Samstagabend in Reutlingen im Einsatz waren, schilderten den »ziemlich dynamischen« Ablauf der Demo, so ein Bereitschaftspolizist aus Bruchsal. Zur Erhellung des konkreten Falls konnten sie wenig beitragen, weil sie mit Einzelpersonen nichts zu tun hatten. Nach den Aussagen der Zeugen gab es Einblick ins Live-Geschehen von damals – per YouTube-Video des »Lichterlaufs«.

Die Beweisaufnahme war damit beendet, die rechtliche Einordnung des Geschehens nicht. Die entpuppte sich als reichlich kompliziert. Denn in den Bußgeldverfahren geht es im Kern um eine mehrseitige verwaltungsrechtliche Verbotsverfügung, die der Landkreis und die Stadt kurz vor der Demo erlassen hatten. Die richtige Adresse, sie zu überprüfen, wäre das Verwaltungsgericht. Weil aber niemand dagegen vorgegangen war, hängt’s jetzt an den Amtsrichtern. Für Sierk Hamann ist »nach mehrfacher Gesetzeslektüre« der Fall klar: Die Allgemeinverfügung des Landratsamtes hält er für rechtswidrig, weil sie gegen Bundesrecht verstößt. Das Landratsamt beziehungsweise Gesundheitsamt hatte das Verbot mit dem Infektionsschutzgesetz begründet, allerdings war zu diesem Zeitpunkt die »epidemische Lage von nationaler Tragweite« vom Bund bereits als beendet erklärt und ein »Totalverbot« von Versammlungen aus Infektionsschutzgründen untersagt worden.

Die Verbotsverfügung der Stadt ist aus Hamanns Sicht dagegen rechtens. Laut Versammlungsgesetz seien Treffen unter Auflagen zwar möglich, an die sich der Anmelder »Herr T.« – gemeint war Manuel Tharann – aber zuvor nicht gehalten habe und die er laut Telegram-Postings auch weiterhin habe ignorieren wollen. Hamann verwies auf Tharanns Vergleiche von Impfärzten mit den Schwerstverbrechern des Holocaust sowie anhängige Verfahren. »Dieser Anmelder«, so der Richter, »hätte bei einer Genehmigung eine toxische Mischung produziert«. Deshalb habe die Stadt ihren Ermessensspielraum »nachvollziehbar« genutzt.

»Die Polizei hatte keine andere Wahl«

Damit nicht genug der rechtlichen Feinheiten. Wer eine verbotene Versammlung leitet, begeht eine Straftat. Wer mitläuft, riskiert ein Bußgeld bis zu 1 000 Euro. Was aber passiert mit denen, die drum rum stehen? »Auch Gaffen kann bußgeldpflichtig sein«, stellte Hamann mit Verweis auf § 113 des Ordnungswidrigkeitengesetzes klar: Geldbußen drohen auch dann, wenn sich jemand trotz Aufforderung nicht aus einer »unerlaubten Ansammlung« entfernt. Deshalb, so Hamann, »ist schon das Stehenbleiben im Dunstkreis sanktionsfähig«.

Staatsanwalt Tobias Freudenberg schloss sich dieser Meinung an, hielt auch die Auffassung Hamanns, die Allgemeinverfügung des Landkreises sei rechtswidrig, für vertretbar. Aber, so Freudenberg: Überlegungen zum Infektionsschutz seien damals ja keineswegs fremd gewesen. »Die Erfahrungen waren da. In der konkreten Situation muss man entscheiden: Ist es verantwortbar?« So gesehen habe abseits der »juristischen Finessen« der Landkreis nichts falsch gemacht. Und zum Fall der 18-Jährigen: Sie habe aus »jugendlicher Neugier« die verbotene Versammlung zwar nur beobachtet, aber die Aufforderungen, wegzugehen, ignoriert. »Die Polizei hatte keine andere Wahl. Mitten auf der Hauptverkehrsstraße eine aufgewiegelte Menschenmenge, die sich auf Konfrontationskurs befindet – das hat sie mitbekommen und sich nicht entfernt, wie es ihre Pflicht gewesen wäre.«

Freudenberg forderte ein Bußgeld von 100 Euro, Verteidiger Manuel Rogge Freispruch. Seine Mandantin habe räumlich getrennt zu der Versammlung gestanden, sie aus Neugier und ohne jeglichen Bezug zu Teilnehmern oder Inhalten beobachtet. »Als sie gehen wollte, war es ihr nicht möglich. Dafür soll sie gradestehen?«

Soll sie, sagte Hamann in seiner Urteilsbegründung. »Sie hatten eine Stunde lang Zeit, da wegzugehen. Ich bin mir sicher, niemand hat sie aufgehalten.« Aus dem Video und den Aussagen der Polizeibeamten sei klar hervorgegangen, dass es mindestens drei Aufforderungen gegeben habe. Gaffer, Claqueure und »passiv Duldende« seien in kommunikativer Wechselwirkung mit dem Kern der verbotenen Demo. »Mit Zuschauern ist es für die viel spannender.« Bei der ersten Durchsage der Polizei hätte sie weggehen sollen, was sie nicht getan habe. Wegen Nicht-Entfernens aus einer unrechtmäßigen Versammlung nach dreimaliger Aufforderung verurteilte er sie zu 50 Euro Geldbuße als »kleinen Denkzettel«. (GEA)