REUTLINGEN. »In diesem Moment hatte ich die Angst meines Lebens.« Als CDU-Gemeinderätin Anna Mylona in der jüngsten Sitzung des Gemeinderats Vorfälle öffentlich macht, die während des Kommunal- und des Bundestagswahlkampfs passiert sind, herrscht im Saal Stille. Ein Mann war damals, im Frühsommer 2024, an den Infostand der CDU gekommen, gezielt auf sie und Fraktionschefin Gabriele Gaiser zugegangen, hatte die beiden angeschrien und als »Kriegstreiber« bezeichnet. An seinem Gürtel hing ein Messer. »Er kam uns sehr nah und hatte die Hand immer wieder am Messer«, erzählt Mylona. Derselbe Mann hatte die 27-Jährige eine Woche zuvor an ihrem Arbeitsplatz mit einem Foto gezielt gesucht - und ebenfalls angeschrien. »Das hatte immer mit meiner Mitgliedschaft in der CDU zu tun«, so die junge Frau. Sie sei »perplex« gewesen, sagt sie. »Ich war ja erst wenige Monate Parteimitglied und hatte mit solchen Situationen noch nie zu tun.«
»Es gab konkrete Bedrohungen«
Dieser Mann rief dann irgendwann auch ein anderes Fraktionsmitglied auf der Arbeit an. »Es gab konkrete Bedrohungen, auch die Familien wurden ins Spiel gebracht«, schildert Mylona an diesem Abend. Nach mehreren Vorfällen habe die Fraktion dann Anzeige bei der Polizei erstattet, »es gibt ein Ermittlungsverfahren«, sagt Gabriele Gaiser dem GEA. Der Kommunalwahlkampf war irgendwann zu Ende - die Bedrohung aber noch nicht. »Dieser Mann ist beim Neujahrsempfang der CDU wieder aufgetaucht, und wieder hatte er ein Messer dabei«, schildert Mylona. Da war dann schon Polizei vor Ort und kümmerte sich. Der Mann stammt aus der linken Szene, stellt Gaiser an diesem Abend im Gemeinderat klar.
»Was mich dann aber am allermeisten schockiert hat: Nach der Debatte um Merz und die Brandmauer haben uns einige Gemeinderatsmitglieder nicht mal mehr die Hand gegeben«, sagt Mylona. Das Verhalten habe sich in den vergangenen Wochen weiter verändert, der Ton sei im Gremium noch »rauer« geworden. »Es gab weitere Vorfälle im Gemeinderat, die einen dringenden Gesprächs- und Handlungsbedarf erforderlich gemacht haben«, sagt Fraktionschefin Gaiser. Zu Details schweigt sie. Nur so viel: Auf CDU-Initiative hin gebe es im März ein Gespräch zwischen den Fraktionsvorsitzenden und der Verwaltungsspitze. Es soll um den Umgang miteinander im Gemeinderat gehen.
»Ist das die politische Kultur, die wir haben wollen?«
Mylona schildert, dass das Verhalten anderer Gemeinderäte in den vergangenen Wochen "Druck" bei ihr ausgelöst hat. »Ist das die politische Kultur, die wir haben wollen?« Dafür gibt's stehenden Applaus von ihren CDU-Kollegen, Teilen der AfD- und WiR-Fraktion. Oberbürgermeister Thomas Keck ist hörbar betroffen nach der Rede der jungen Frau, die sie im Rahmen einer Debatte um das Bündnis "Sicherer Hafen" gehalten hatte. Auf vergangene GEA-Anfragen hatte die CDU noch vor zwei Wochen die Bedrohung nicht so konkret geschildert. Warum also jetzt? »Wir haben uns lange zurückgehalten, weil der Mann auf freiem Fuß ist«, sagt Gaiser. »Auch wollten wir keine Anschuldigungen nach außen tragen in einer Art und Weise, die dem Miteinander nicht dienlich ist.« Doch nun habe das schlechte und teils bedrohliche Verhalten der CDU gegenüber Überhand genommen, und man habe sich zu diesem Schritt entschieden.

Nach dieser Gemeinderatssitzung meldet sich Jaron Immer beim GEA, der für die Grünen im Gemeinderat sitzt und ihr Bundestagskandidat war. Auch er sei verbal heftig angegangen worden, sagt er. Postalisch seien ihm vier Briefe mit Hassbotschaften zugegangen. Einer davon unterschrieben mit dem bedrohlichen Gruß: »Eine Gruppe, die in Ihrer Nähe ist.« Am Infostand sei er von einem Mann geschubst worden. Auf Instagram und Tiktok habe er sehr viele Nachrichten bekommen, die unter der Gürtellinie sind. 40 bis 50 davon seien konkrete Hassbotschaften gewesen. »Geh dich vergraben«, hieß es da. Oder: »Sei froh, dass ich euch am Infostand nicht gesehen habe.« Immer sagt: »Ich werde einiges davon nun zur Anzeige bringen.«
»Das macht schon was mit einem«
Er kritisiert - genau wie Mylona - dass sich vermehrt der bundespolitische Streit im Gemeinderat niederschlage. Mylona bedauert: »Man kann nicht mehr einfach eine politische Entscheidung vertreten, ohne gebrandmarkt zu werden.« Immer sagt: »Das macht schon was mit einem. Man denkt nochmal mehr drüber nach, was man sagt.« Aber er mahnt auch davor, legitime politische Auseinandersetzung mit Anfeindung zu vermischen. CDU-Frau Mylona beispielsweise kritisiert, dass linke Bündnisse auch in Reutlingen zu einer Demo gegen die CDU aufgerufen hatten. Immer hingegen findet, diese als Mahnwache bezeichnete Demo sei eine legitime politische Position gewesen. Von verweigerten Handschlägen aus dem linken Spektrum nach der Brandmauer-Abstimmung weiß er nichts. »Das wäre auch absolut nicht mein Weg«, sagt er. »Ich verstehe mich auf persönlicher Ebene gut mit den CDU-Mitgliedern.« (GEA)