REUTLINGEN. Es war ein mutiger Schritt, aber bereut hat ihn Ulrich Högel keine Sekunde: Mit sechzig Jahren wagte er einen beruflichen Neuanfang, bewarb sich auf den Geschäftsführer-Posten der Reutlinger Arbeiterwohlfahrt (AWO), bekam den Job. Jetzt geht er in Ruhestand. Und sagt über seine AWO-Zeit: »Ich bin total happy.« Happy, dass er’s getan hat, happy, wie's gelaufen ist. Denn in den sechs Jahren hat er viel in Gang gebracht bei der AWO. Und damit bewiesen, dass er ein Gestalter und kein Verwalter ist, wie er es bei seinem Amtsantritt 2019 formulierte. Offenbar war er dabei mit so viel Power unterwegs, dass er auf dem Einladungsflyer zur Verabschiedung als Superman zu sehen ist.
Vor seinem Einstieg bei der AWO war Ulrich Högel 20 Jahre lang Regionalleiter des gemeinnützigen Bildungsträgers BBQ mit 120 Mitarbeitenden. Die AWO hatte damals 17 Hauptamtliche, dazu 100 Ehrenamtliche. »Eine ganz andere Struktur«, sagt Högel. Aber genau das, was er wollte, nämlich ein Neuanfang bei einem kleinen sozialen Träger. »Es war ein Glücksfall, für die AWO und für mich«, blickt er zurück. Für die AWO, weil er sich bestens mit ihren Werten identifizieren konnte, von der ersten Minute an, aber auch mit dem neuen Job. »Ich hatte schnell das Gefühl, dass ich dazu gehöre.«
Begreifbar machen, was Armut bedeutet
Wer einen Wohlfahrtsverband vertritt, muss Spenden gewinnen, auch Ehrenamtliche. Schon deshalb, sagt Högel, ist die Öffentlichkeitsarbeit so wichtig. »Ich glaube, dass mir das liegt.« Ihm ging es darum, einer breiten Öffentlichkeit begreifbar zu machen, was Armut und Wohnungslosigkeit bedeutet – ohne Menschen zu stigmatisieren, ohne sie bloßzustellen. »Es ist wichtig, möglichst authentisch zu berichten. Wer selbst in der Krise steckt, kann und will das nicht.«
Wichtig von Anfang an war ihm außerdem, die Vernetzung mit anderen Trägern weiter voranzutreiben. Eine zentrale Rolle misst er dabei der Liga der freien Wohlfahrtspflege bei, mit der es viele gemeinsame Aktionen gab und bei der er auch turnusgemäß den Vorsitz hatte. Nicht minder wichtig: »Die Mitarbeitenden stehen für mich im Mittelpunkt.« Die Arbeitsplätze konnte er nicht nur erhalten, sondern ausbauen, in den sechs Jahren stieg die Zahl auf 35 Hauptamtliche. Auch beim Umsatz ging es nach oben – von 1 Million auf 2,5 Millionen Euro.
Immer mehr Familien in Wohnungsnot
Das ist auch den neuen Hilfsangeboten geschuldet, die in Högels Geschäftsführer-Zeit entstanden sind. Als Beispiel nennt er »FaWo 2.0«, was für das Projekt »Familien in Wohnungsnot« steht. Deren Zahl steigt, die AWO unterstützt mit einem speziell auf Familien zugeschnittenen Programm. Weil auch das »Netzwerk Ambulante Wohnungssicherung« (NAWO), das bei drohendem Wohnungsverlust aktiv wird, immer gefragter ist, wurde das Angebot ausgebaut. Ebenfalls neu: das Projekt »HoMe«. Es bietet Hilfe für Menschen, die von einer Kommune ordnungsrechtlich untergebracht sind. Ein hoher Anteil dieser Menschen, erklärt Ulrich Högel, lebt relativ lang in den Wohnungen, in die sie eingewiesen wurden. »Wir begleiten sie sozialarbeiterisch, damit sie dort wieder rauskommen.«
Neu dazugekommen ist in seiner Geschäftsführer-Zeit außerdem Reutlingens erster AWO-Kindergarten, betrieben vom Bezirksverband. Außerdem eine siebte Oase – und eine interne Immobilien-Verwaltung. Die AWO, nennt Ulrich Högel den Grund, bietet fast 100 Menschen Wohnraum. »Das ist aufwendig, deshalb haben wir es professionalisiert.« Wie auch die Stadtranderholung, die jetzt hauptamtlich gemanagt wird. Als weiteres Novum nennt Högel die Zusammenarbeit mit dem Kreis der Älteren in Orschel-Hagen. Und das »neueste Baby«: das Med-Mobil für Menschen, die keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben.
Ständiger Kampf ums Geld
Aber es gibt auch Dinge, die der scheidende Geschäftsführer nicht umsetzen konnte. Wie das Hilfsangebot für unter 25-jährige Wohnungslose oder das Vorhaben, den Tagestreff barrierefrei zu machen. Am meisten schmerzt ihn, dass das Projekt »Pension plus«, ein passgenaues Konzept für psychisch Kranke in Wohnungsnot, kurz vor der Realisierung platzte. Von der Finanzierung bis zum Gebäude war schon alles geklärt. Doch dann kam Corona, die Kosten für den notwendigen Umbau explodierten, die AWO zog die Reißleine. »Das war ein Schlag ins Kontor«, sagt Ulrich Högel. Für ihn selbst, weil er viel Herzblut und Zeit in das Projekt investiert habe. Und für die AWO. »Es gibt immer mehr Menschen in unseren Einrichtungen, die psychisch angeschlagen sind und das System sprengen.«
Nachfolge steht fest
Die Nachfolge von Ulrich Högel steht bereits fest. Neuer Geschäftsführer der Reutlinger Arbeiterwohlfahrt wird Kilian Brauchle, studierter Betriebswirt und Informatiker. Für den 37-Jährigen ist der neue Job kein Sprung ins kalte Wasser, denn seit über zwei Jahren ist er stellvertretender Geschäftsführer der AWO. Der gebürtige Blaubeurener kommt aus dem IT-Bereich, wollte aber eine beruflichen Neuorientierung und hat sich deshalb bei der AWO beworben. (GEA)
Högel durfte in den sechs Jahren viel feiern, acht große Jubiläen – unter anderem 100 Jahre AWO - fielen in die kurze Zeit. Er musste aber auch viel kämpfen: ums Geld, denn die Angebote der AWO sind nicht durchfinanziert, sie ist deshalb auf Spenden und öffentliche Zuwendungen angewiesen. Priorität für den Geschäftsführer müsse es deshalb haben, die Politik davon zu überzeugen, »dass die Aufgaben, die wir von Stadt und Landkreis übernommen haben, auch ausreichend finanziert werden«.
200-Kilometer-Weg in die neue Lebensphase
Högel bezeichnet sich als Teamplayer, als einen, der auf die Menschen zugeht. Den Dialog, den ständigen Austausch wird er vermissen, wenn er in Ruhestand geht. »Gehen« im wortwörtlichen Sinn, denn er tut erstmal das, was er auch nach seinem Ausstieg bei BBQ gemacht hat: den Rucksack packen und laufen, ganz allein. Damals waren es 120 Kilometer, diesmal werden es 200 sein – von Schwörstadt, wo seine Enkelin wohnt, zurück zum Wohnort Wannweil. »Das tut mir gut. Wenn ich mich bewege, kann ich auch meine Gedanken bewegen.« Das ist vorerst der einzige Plan für den Ruhestand. Er bekomme zwar täglich Angebote, sagt er und lacht, blocke aber alles ab. Noch. Auf dem 200-Kilometer-Weg in die neue Lebensphase ist schließlich Zeit für Ideen. (GEA)