REUTLINGEN. »Extrem übergriffig« sei er gewesen, stellt Richterin Natalia Gertner am Amtsgericht Reutlingen gegenüber dem angeklagten Arzt fest. Dennoch spricht sie den Mediziner vom Vorwurf der sexuellen Nötigung in einem Fall frei, verurteilt ihn aber gleichzeitig wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in einer anderen Situation zu einer siebenmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung. Die beeindruckende einstündige Urteilsbegründung der Richterin am Dienstag ist detailliert und deutlich.
An den Schilderungen der Zeugin, die als zur Tatzeit 25 Jahre junge Mitarbeiterin des 40-Jährigen in einer Corona-Teststelle von ihm im Auto in aus ihrer Sicht unsittlichen Weise massiert und berührt wurde, hat die Richterin »keinerlei Zweifel«. Das private Treffen habe stattgefunden, der Angeklagte auch seine Hand in ihren Brustbereich sowie eine Hand der Frau zwischen seine Beine gelegt. Versuche der im Lauf des Verfahrens offensiv aufgetretenen Verteidigung, die Glaubwürdigkeit der Aussagen der jungen Frau zu erschüttern, weist sie am Ende sachlich zurück. Man könne es der Angestellten auch keinesfalls vorwerfen, sich mal privat mit ihrem Chef zu treffen – ohne irgendwelche weitergehenden Absichten. Unter dem Strich sei aber, so Gertner, »der Tatbestand der sexuellen Nötigung nicht erfüllt«. Dabei gehe es juristisch betrachtet in erster Linie »um die Erheblichkeit«.
»Sie haben ihre Vertrauensstellung als Arzt ausgenutzt«
Die Handlungen seien im bekleideten Zustand erfolgt. Nachdem die Betroffene ihren klaren Gegenwillen äußerte, sei danach nichts mehr passiert. Unmissverständlich stellt die Richterin allerdings fest, der Arzt habe »eindeutig Grenzen überschritten. Das ist kein sozial adäquates Verhalten«. Sie bezeichnet den Mediziner als »extrem übergriffig«. Sein Verhalten habe die Betroffene »als belästigend empfunden«. Verurteilt wird der Angeklagte letztlich in einem anderen Fall.
Bei einem abendlichen Hausbesuch in einem Reutlinger Teilort hat er einer 22-jährigen Schmerzpatientin zunächst eine Tablette des Opiods Tilidin verabreicht. »Das ist medizinisch noch vertretbar«, bezieht sich Richterin Gertner auf die Aussagen eines Sachverständigen. Was danach unzweifelhaft passiert sei, dagegen keinesfalls. Der Hausarzt habe der jungen Frau den Konsum einer Flasche Bier »aufgedrängt«.
Die unberechenbaren und riskanten Nebenwirkungen durch jeden Alkoholkonsum nach Einnahme von Tilidin hätten ihm als Mediziner jedoch bekannt und bewusst sein müssen. Zudem handele es sich bei der gesundheitlich vorgeschädigten Patientin um eine nicht alkoholgewöhnte junge Frau, die nach der Flasche Bier laut ihren Aussagen in einen benebelten »Trans-Zustand« fiel, und sich nur an wenig erinnern kann. Der Doktor habe ihr unter der Kleidung den Rücken massiert. Ob der tranceartige Zustand der jungen Patientin eine Folge der Kombination von Opioid und Alkohol sei, könne nicht mit Gewissheit gesagt werden – wesentlich sei die Tat an sich.
Der Arzt habe wider besseres Wissen diese Nebenwirkungen »billigend in Kauf genommen. Sie haben ihre Vertrauensstellung als Arzt ausgenutzt«. Er habe sich damit als »mittelbarer Täter« durch das Aufdrängen des Bieres einer versuchten gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht. Das Urteil trägt diesem Umstand Rechnung.
Die siebenmonatige Freiheitsstrafe wird auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Daneben muss der Mediziner als Geldauflage 1.000 Euro an das Reutlinger Frauenhaus sowie 2.000 Euro Schmerzensgeld an die Betroffene und Zeugin bezahlen. Einen Teil der Verfahrenskosten muss er zudem ebenfalls tragen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der Mann und seine Verteidiger haben eine Woche Zeit, Rechtsmittel dagegen einzulegen. (GEA)