Logo
Aktuell Umfrage

»Reutlingens Töchter«: Sorgen Migranten für Angst?

Bundeskanzler Friedrich Merz hat mit seiner »Stadtbild-Äußerung« eine lebhafte Diskussion über migrationsbedingtes Missbehagen in der Gesellschaft angezettelt. Man möge, so der Kanzler sinngemäß, deutsche Töchter nach ihrem Befinden und Empfinden in Bezug auf Zuwanderungsströme befragen, dann werde man schon klare Antworten erhalten. Der GEA hat auf der Wilhelmstraße nachgehakt und mit »Töchtern« gesprochen. Ein Stimmungsbild.

Multikulturell und friedlich: Passantenstrom in der Unteren Wilhelmstraße.
Multikulturell und friedlich: Passantenstrom in der Unteren Wilhelmstraße. Foto: Steffen Schanz
Multikulturell und friedlich: Passantenstrom in der Unteren Wilhelmstraße.
Foto: Steffen Schanz

REUTLINGEN. In puncto Migration hat Bundeskanzler Friedrich Merz eine hitzige »Stadtbild-Diskussion« entfacht und im selben Atemzug auf Alltagserfahrungen deutscher Mädchen und Frauen verwiesen. Unterschwellig behauptet er, dass durch (illegale und arbeitslose) Einwanderer, die Aufenthaltsqualität in deutschen Kommunen insbesondere geschmälert wird. Aber: Tun sie das tatsächlich? Tun sie das in der Achalmstadt? Wie stehen Reutlingens »Töchter« zu der von Merz losgetretenen Debatte? Haben sie Angst vor verbalen und tätlichen Übergriffen? Fühlen sie sich belästigt?

Klares Ja von Jule Neumann. Die 23-Jährige fühlt sich zuweilen tatsächlich unwohl und wird - Stichwort Catcalling - mitunter »verbal plump angemacht«, wenn sie in Reutlingen unterwegs ist. Dieses Missbehagen habe allerdings nichts mit der Herkunft von Menschen zu schaffen, sondern mit deren Auftreten. »Die Hautfarbe spielt für mich keine Rolle, eher das Geschlecht und der Habitus.« Konkret: Ansammlungen von Männern sind der jungen Frau vor allem nach Einbruch der Dunkelheit suspekt. Insbesondere dann, wenn sie »eine alkoholisiert-aggressive Ausstrahlung haben«. In diesen Fällen beschleicht Neumann »Mulmigkeit«. Da sie jedoch fast immer in der Gruppe unterwegs ist, »fühle ich mich nicht wirklich ausgeliefert«. Stärke durch Gemeinschaft ist ihr Credo.

»Die Hautfarbe spielt für mich keine Rolle, eher das Geschlecht und der Habitus«

Derweil Selina Koch keine Ängste kennt. »Die hatte ich noch nie und die lasse ich mir auch von keinem Kanzler einreden.« Natürlich habe sich Reutlingens Stadtbild durch »den Zuzug von Menschen anderer Nationen« gewandelt. Aber nicht »furchteinflößend«. Bunter sei Reutlingen geworden. Vielsprachiger. Multikultureller. Das gefällt der 19-Jährigen. Ärgerlich findet sie hingegen, dass Flüchtlinge »zu vielen bürokratischen Hürden ausgesetzt sind und deshalb erst spät Jobs annehmen dürfen«. Hier liegt für die Reutlingerin der Hase im Pfeffer. »Wer keine Arbeit hat, hängt halt rum und kommt vielleicht auch auf dumme Gedanken. Erzwungene Untätigkeit macht depressiv. Da dran sollte der Merz mal arbeiten.«

Auch Tina Meierlohr hat keinerlei Probleme mit einem multikulturell durchmischten Stadtbild. Probleme hat sie hingegen mit den Einlassungen von Kanzler Merz. Die seien eines Staatsmannes nicht würdig, findet sie. »Das ist doch polarisierender Populismus pur. Den hätte er sich verkneifen sollen.« Zumal es für die 33-jährige Metzingerin aus eigenem Erleben keinen Grund dafür gibt, eine »bestimmte Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht zu stellen«. Meierlohr fühlt sich sicher. Auch abends und nachts. »Das liegt aber vor allem daran, dass ich nur sehr selten allein unterwegs bin.«

»Das ist doch polarisierender Populismus pur. Den hätte sich Merz verkneifen sollen«

Und Sofie Böttler? Die findet die losgetretene Stadtbild-Debatte »völlig daneben«. Und die Aufforderung, Töchter zu fragen, ist für die 17-jährige Walddorferin »eine bodenlose Frechheit«. Damit werde der Schwarze Peter schließlich vom Kanzler an (junge) Frauen durchgereicht: »Merz ergeht sich in populistischen Andeutungen und wir sollen Klartext reden? Das ist übel. Und feige. Der duckt sich hinter uns Frauen weg. Im Übrigen: Was hat Friedrich Merz denn bisher für die Frauenrechte getan? Da fällt mir bedauerlicherweise gar nichts ein!«

Was Böttler mit Mareike Rilling eint. »Ich finde die Diskussion unsäglich«, so die 29-jährige Reutlingerin, die »nichts an Kopftüchern und Turbanen« auf der Straße auszusetzen hat. »Es kommt nicht auf den Teint oder die Kleidung an, sondern auf die inneren Werte. Kriminelle gibt es in allen Kulturkreisen. Auch deutsche Männer begehen Verbrechen oder klopfen sexistische Sprüche.« Ein Gutes habe die Merz'sche »Entgleisung« allerdings doch: »In ihrer Folge haben 60 prominente Frauen einen Forderungskatalog zur Stärkung der Frauenrechte aufgestellt. Das nenne ich mal konstruktiv.«

»Kriminelle gibt es in allen Kulturkreisen. Auch deutsche Männer begehen Verbrechen«

Ganz ähnlich die Auffassung von Pia Schmidt, die den »offenen Brief berühmter Frauen an Merz« sofort unterschreiben würde: »weil zum Beispiel blöde Anmache kein Kavaliersdelikt ist«. Allerdings ließen sich verbale und tätliche Übergriffigkeiten keiner speziellen Gruppe zuordnen. »In allen Nationalitäten und Altersgruppen gibt es solche und solche.« Die 18-Jährige hat im Übrigen bislang keine »wirklich schlechten Erfahrungen gemacht«. Solche provoziere sie allerdings auch nicht. »Nachts allein in einer nahezu menschenleeren Stadt würde ich mich nicht aufhalten und dunkle Ecken meide ich sowieso.« Ansonsten fühlt sich die 25-Jährige aber grundsätzlich »safe«.

So auch Evi Löprich für die »jeder willkommen ist, der sich an Recht und Ordnung hält«. Nicht das Äußere, der Kleidungsstil oder die Hautfarbe, seien wesentlich, sondern die Bereitschaft und der Wille zur Integration. Angst vor Menschen sei der 34-jährigen Bäckereifachverkäuferin, an deren Theke Tag für Tag der Querschnitt der Gesellschaft einkauft, fremd. »Ich habe eine große Klappe und bin couragiert.« Ihre Botschaft nach Berlin: »Bringt die Leute zügig in Lohn und Brot, sorgt für ausreichend Sprachkurse.« Das sei der Schlüssel für ein gutes gesellschaftliches Miteinander. (GEA)