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Reutlingens Linke setzt auf Haustür-Wahlkampf

Erkenntnisreiches Klinkenputzen: Wie die linke Direktkandidatin Anne Zerr um Stimmen wirbt und warum sie den direkten Draht zur Reutlinger Bürgerschaft sucht.

Anne Zerr und Rüdiger Weckmann suchen den direkten Draht zur Reutlinger Bürgerschaft. Im Rahmen von Haustür-Gesprächen informier
Anne Zerr und Rüdiger Weckmann suchen den direkten Draht zur Reutlinger Bürgerschaft. Im Rahmen von Haustür-Gesprächen informieren sie sich darüber, was die Menschen in ihrem individuellen Alltag bedrückt und beglückt. Foto: STEFFEN SCHANZ
Anne Zerr und Rüdiger Weckmann suchen den direkten Draht zur Reutlinger Bürgerschaft. Im Rahmen von Haustür-Gesprächen informieren sie sich darüber, was die Menschen in ihrem individuellen Alltag bedrückt und beglückt.
Foto: STEFFEN SCHANZ

REUTLINGEN. Kaum zu glauben, aber wahr: Der wahlkämpferische Haustüren-Aktionstag von Reutlingens Linkspartei läuft wie Schmitz’ Katze. Egal wo Bundestagskandidatin Anne Zerr (32) und ihre Unterstützer auch klingeln – wenn Bewohner daheim sind, öffnen sich die Türen. Zurückweisungen gibt es keine. Im Gegenteil. An diesem Abend ist die Dialogbereitschaft sogar extrem hoch. Jedenfalls deutlich höher als die allenthalben beklagte Politikverdrossenheit. Denn Letztere macht heute – warum auch immer – Pause. Eine Kehrtwende?

»Das wäre natürlich wünschenswert«, sagt Anne Zerr, die selbst ein bissle überrascht ist, dass ihr samt und sonders alle nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Reutlinger erst die Türen und dann die Ohren öffnen. Ihr und im Übrigen auch den anderen »Klinkenputzern«, die vor wenigen Minuten – es ist 17.15 Uhr – in Zweier-Teams vom Parteibüro in der Weingärtnerstraße aus losgezogen sind, um den persönlichen Kontakt mit Innenstadt-Anwohnern gleich welcher politischen Couleur zu suchen.

Sicherheitshalber im Tandem unterwegs

Paarweise sind sie deshalb unterwegs, weil spontane Gesprächsangebote zwischen Tür und Angel eben doch das Risiko bergen, verbal oder sogar körperlich attackiert zu werden. Ein Worst-Case-Szenario, das bislang aber glücklicherweise ausgeblieben ist. Sieht man einmal davon ab, dass Stadtrat Rüdiger Weckmann, der sich soeben mit Anne Zerr zum Tandem zusammengeschlossen hat, beim Plakate-Aufhängen von einem Passanten übelst angegangen wurde.

»Warum hat man dich nicht erschossen?«, soll der Typ gebrüllt haben. Was Weckmann zwar schockierte, ihn jedoch nicht davon abhält, die Fahne seiner Partei hochzuhalten. Einschüchtern, so viel steht fest, lässt sich der 74-Jährige nicht. Umso weniger, als Reutlingens Linke aktuell auf einer beispiellosen Erfolgswelle surft.

Die Linken-Aktivisten schwärmen zum Haustür-Wahlkampf in der Reutlinger Innenstadt  aus.
Die Linken-Aktivisten schwärmen zum Haustür-Wahlkampf in der Reutlinger Innenstadt aus. Foto: STEFFEN SCHANZ
Die Linken-Aktivisten schwärmen zum Haustür-Wahlkampf in der Reutlinger Innenstadt aus.
Foto: STEFFEN SCHANZ

Nahezu wöchentlich, so Anne Zerr, treten neue Mitglieder ein. Überwiegend junge Leute und alles andere als Passivposten. Aus dem Stand heraus packen sie mit an, rühren die Werbetrommel, stärken der linken Direktkandidatin den Rücken. »Das tut unendlich gut.« Spricht’s und drückt auf einen Klingelknopf. Die Sprechanlage knarzt. »Ja? Hallo?«

»Hey, hier ist Anne von der Linken. Ich will mal nachfragen, was sich ändern muss, damit dein Alltag besser wird.« Ein Mann tritt ins fahle Flurlicht. Lacht. »Mich braucht ihr nicht zu überzeugen. Ich werde euch meine Stimmen geben.« Was ihn dazu ermuntert? »Weil ihr gegen jede Form der Diskriminierung seid.«

Kriminelle Einzelfälle nicht generalisieren

Seine sexuelle Orientierung und die Tatsache, dass er mit einem Afrikaner liiert ist, böte intoleranten Menschen reichlich Angriffsfläche, sagt der Mittdreißiger sinngemäß. »Ihr akzeptiert mich so, wie ich bin.« Das habe für ihn den Ausschlag gegeben. Hinzu komme die Haltung der Linkspartei zur Einwanderung. »Wir brauchen diese Migranten«, ist der Mann überzeugt. Man dürfe kriminelle Einzelfälle nicht generalisieren. »Doch genau das passiert, und das ist schlimm. Da muss man gegensteuern.«

Anne Zerr findet es »voll cool, dass du die Linke wählst«. Am kommenden Samstag, beschließen Kandidatin und Wähler, wird man sich am Info-Stand auf dem Marktplatz wiedersehen und das Gespräch fortsetzen. »Festquatschen«, will sich die 32-Jährige, die als Gewerkschaftssekretärin bei Verdi arbeitet, jetzt nämlich nicht, sondern lieber weitere Kurz-Gespräche führen.

In der Hand hält Zerr ein Mobiltelefon mit einer App (OpenStreetMap), auf der sie und die übrigen Haustür-Aktivisten markieren, welche Adressen von ihnen bereits abgeklappert wurden. Farbkennungen zeigen, ob die Gespräche positiv oder negativ waren; oder ob ein Tandem niemanden angetroffen hat. Weiße Flecken auf der Innenstadt-Karte sind neben der untere Wilhelm- auch die Bollwerkstraße. Deshalb, nichts wie hin und reinspaziert in eine der Reutlinger Schmuddelecken.

Dank einer App  weiß das Team von Anne Zerr, welche Haushalte bereits besucht wurden und wie die Gespräche dort liefen.
Dank einer App weiß das Team von Anne Zerr, welche Haushalte bereits besucht wurden und wie die Gespräche dort liefen. Foto: STEFFEN SCHANZ
Dank einer App weiß das Team von Anne Zerr, welche Haushalte bereits besucht wurden und wie die Gespräche dort liefen.
Foto: STEFFEN SCHANZ

Die nur spärlich beleuchtete Bollwerkstraße empfängt das Duo mit müffelnden Abfalleimern, Fassadenschmierereien und Sperrmüllansammlungen, die vermutlich schon seit Wochen ihrer Entsorgung harren. Etliche Klingelversuche laufen ins Leere – niemand zu Hause. Als endlich doch ein Fenster aufgeht, scheitert der Dialog an Sprachkenntnissen. Der Asiate ist des Deutschen nicht mächtig. Dafür klappt’s ein paar Meter weiter. Hier ist es eine Achtzigjährige, die sich bereitwillig auf einen kleinen Polit-Plausch einlässt – obwohl sie »keiner Partei glaubt« und »wenig Erwartungen« an die nächste Bundesregierung hat.

Politik, lässt die Seniorin durchblicken, ist weniger ihr Ding. Auch, weil sie es ablehnt, »immer gleich nach dem Staat zu rufen«. Sie hält’s »mit Kennedy«, wie sie betont: »Wenn man seine Situation verbessern will, muss man auch selber etwas dafür tun!«

Finanziell nicht auf Rosen gebettet

Dass ihre Situation keine glänzende ist, sieht man der betagten Frau an. Finanziell auf Rosen gebettet ist sie sicherlich nicht. Und tatsächlich: »Ich bekomme 900 Euro Rente, zahle aber glücklicherweise nur eine kleine Miete« – mit dem Nachteil, viele Stufen bis ins Dachgeschoss bewältigen zu müssen. Was der Seniorin wegen ihrer offenbar angegriffenen Lunge schwerfällt.

Ob sie sich schon bei der GWG gemeldet hat, wollen Anne Zerr und Rüdiger Weckmann wissen und ernten dafür resigniertes Schulterzucken. »Meine Internetmeldung hat nicht funktioniert«, sagt die Innenstadt-Bewohnerin. »Ich bin ja auch nicht so digital. Ich hab’s aufgegeben.«

Niemand zu Hause? Schade ...
Niemand zu Hause? Schade ... Foto: STEFFEN SCHANZ
Niemand zu Hause? Schade ...
Foto: STEFFEN SCHANZ

Dabei würde sie »sehr gerne« in eine Parterrewohnung umziehen und findet es »schon ein bisschen schade, dass ich so wenig Geld zur Verfügung habe, nachdem ich mit 13,5 Jahren erstmals arbeiten gegangen bin«. Sozial gerecht sei das nicht. »Aber wozu jammern?« Das überlässt sie gerne anderen.

Wünsche hat die 80-Jährige trotzdem: etwa dass die Energie- und Lebensmittelpreise wieder sinken. »Es ist alles so furchtbar teuer geworden.« Womit sie einem türkischstämmigen Mann mittleren Alters aus dem Herzen spricht. Der wiegelt zunächst ab. »Ich habe keinen deutschen Pass und darf nicht wählen.« Als er allerdings hört, dass die Linke auch Steuerzahlern wie ihm den Gang zur Urne ermöglichen möchte, wird er zugänglich, nimmt das ihm angebotene Informationsmaterial mit und denkt laut über eine »Milliardärssteuer« nach.

Inflation, explodierende Mieten, Bildung und Bürgerversicherung

Sie zählt neben den Folgen der Inflation, den explodierenden Mieten und der Idee einer Bürgerversicherung zu den Klassikern des linken Haustürwahlkampfes. Ebenfalls oft aufs Tapet gebracht: »Bildung und Geflüchtete«, so Zerr, deren Team seit Dezember an rund 700 Türen geklopft hat. Etwa ein Drittel der geführten Gespräche hatte Tiefgang. Und manch’ Dialog mündete in der Absichtserklärung, die Linke wählen zu wollen.

Ob diesen Willensbekundungen auch Taten folgen werden, lässt sich freilich nicht abschätzen. Anne Zerr ist aber zuversichtlich, dass ihre persönliche Art des Wahlkampfes Früchte trägt. »Die Leute freuen sich darüber, dass wir uns für sie und ihre Lebensverhältnisse interessieren«, sagt die Kandidatin und drückt auf den nächsten Klingelknopf. (GEA)