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Reutlingens AfD-Stadtrat Schrade: »Keine offene Flanke bieten«

Die Achalm: Für Hansjörg Schrade eindeutig ein Lieblingsplatz in Reutlingen. Bei einem Spaziergang geht's um Politik und politische Gegner, Kritik, Radikalität und Ziele.

Auf der Achalm gefällt es ihm: AfD-Stadtrat Hansjörg Schrade.
Auf der Achalm gefällt es ihm: AfD-Stadtrat Hansjörg Schrade. Foto: Kathrin Kammerer
Auf der Achalm gefällt es ihm: AfD-Stadtrat Hansjörg Schrade.
Foto: Kathrin Kammerer

REUTLINGEN. Der Aufstieg zu seinem Lieblingsplatz kostet ihn Kraft, er muss ordentlich schnaufen. Denn wer bis zum Achalm-Turm will, der muss einige Höhenmeter zurücklegen. Seit Winter 2021/22 ist Hansjörg Schrade sehr kurzatmig. Die Spätfolgen einer Erkrankung »in Verbindung mit einem positiven Coronatest« schlauchen ihn bis heute, wie er's beschreibt. Long-Covid? Schrade winkt ab. Wie man das nun genau tituliert sei am Ende doch egal. Der AfD-Stadtrat weicht auch jetzt nicht von seiner fundamental Kritik an den Corona-Maßnahmen ab. Maskenpflicht, Schulschließungen, Impfungen: zu viel, zu ungenau. Er legt aber auch Wert drauf: »Ich habe die Pandemie nie geleugnet.«

Aber dieser »Maskenzwang« in der Innenstadt, den nehme er Oberbürgermeister Thomas Keck übel. Den er menschlich übrigens echt okay finde, fachlich aber scharf kritisieren müsse. Denn es habe auch andere OBs gegeben, die nicht so restriktiv gehandelt hätten. In der Hand hält der 65-Jährige an diesem warmen Spätsommertag eine blaue Tüte. Inhalt: ein Buch (»Das große Egal« von Antje Hermenau) und ein Notizbuch. Beides sagt viel über den Tütenträger aus. Antje Hermenau war lange Grünen-Politikerin, bevor sie frustriert aus ihrer Partei austrat. Auch Schrade war mal Grünen-Mitglied, wenn auch eher »eine Karteileiche«, wie er sagt.

»Das große Egal«: Hansjörg Schrade liest genau und unterstreicht Passagen, die ihm wichtig erscheinen.
»Das große Egal«: Hansjörg Schrade liest genau und unterstreicht Passagen, die ihm wichtig erscheinen. Foto: Kathrin Kammerer
»Das große Egal«: Hansjörg Schrade liest genau und unterstreicht Passagen, die ihm wichtig erscheinen.
Foto: Kathrin Kammerer

Im seinem Notizbuch notiert sich Schrade alles, was ihm kommunalpolitisch wichtig erscheint, sagt er. Eine Feinsäuberlichkeit, die sich auch bei seinen zahlreichen Anträgen und Anfragen an die Stadtverwaltung wiederfindet. Diese sind immer mit zahlreichen Quellenangaben versehen. Manche erinnern deshalb fast an Uni-Arbeiten. »Ich habe den verbissenen Ehrgeiz, da keine offene Flanke zu bieten«, gibt er zu. Eine Flanke gegenüber dem restlichen Gemeinderat. Politische Gegner sagen, Schrade wolle die Verwaltung mit seinen vielen Anfragen triezen, ja lahmlegen. »Dieser Vorwurf macht mir nichts, ich fühle mich eher bestätigt«, sagt er. Anfragen stellen sei ja »die zentrale Aufgabe der Opposition«.

»Sie kriegen keinen Keil zwischen mich und Höcke.«

Schrade sieht sich als Kämpfer für eine gute Sache, und auch als nahezu einziger Kommunalpolitiker, der im Stadtparlament genauer hinschaut. »Ich bin der Einzige, der beispielsweise in den Bundesanzeiger schaut.« Und wohl auch der einzige Stadtrat, der sich öffentlich so radikal ausdrückt. In seiner politischen Telegram-Gruppe nennt er Sascha Lobo beispielsweise einen »Impf-Propagandisten«, es fallen Framings wie »diktatorisch-grünideologisches Weltbild«, die Flüchtlingspolitik Deutschlands wird scharf kritisiert.

Grund zur Mäßigung sieht Schrade hierbei nicht, auch nicht für eine Distanzierung von AfD-Rechtsaußen Björn Höcke - nach der er übrigens ständig gefragt werde. Der Thüringer Verfassungsschutz stuft Höckes AfD-Landesverband als gesichert rechtsextremistisch ein. "Ja, seine Sportpalast-Rhetorik gefällt mir nicht", sagt Schrade. "Aber er ist ein begnadeter Politiker, der in Thüringen die Brandmauer langsam zum Einstürzen gebracht hat." Und: »Sie kriegen keinen Keil zwischen mich und Höcke.«

Hansjörg Schrade bei einer kurzen Pause auf dem Gipfel der Achalm.
Hansjörg Schrade bei einer kurzen Pause auf dem Gipfel der Achalm. Foto: Kathrin Kammerer
Hansjörg Schrade bei einer kurzen Pause auf dem Gipfel der Achalm.
Foto: Kathrin Kammerer

Doch nicht nur in der Kommunalpolitik sieht er sich als Kämpfer. Auch an diesem warmen Spätsommertag kämpft er sich - trotz Kurzatmigkeit - die Achalm hoch. »Ein toller Ort«, schwärmt er. »Und ein toller Ausblick.« Hier müsse er immer an den »tollen GEA-Artikel« über einen Senior denken, dessen tägliches Sportprogramm aus der routinierten Achalm-Besteigung bestand. »Das tut der Gesundheit gut.«

Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit will sich Diplom-Agraringenieur Schrade nun nochmal eine neue berufliche Herausforderung suchen. Er habe sich bei einem Garten- und Landschaftsbauer beworben, und »positive Rückmeldung« bekommen, sagt er. Bei der Arbeit in zweiter Reihe als parlamentarischer Berater der AfD-Landtagsfraktion von 2017 bis 2022 sei er »müde geworden«. Zu wenig habe er trotz Expertise bewegen können. Deshalb strebt er nun das Amt in erster Reihe an. Mit seiner Kandidatur für die Parteiliste der AfD zur Europawahl war der 65-jährige Europakritiker zwar jüngst gescheitert. Nun will er versuchen, über die Landeliste der AfD in den Deutschen Bundestag einzuziehen.

»Ich arbeite gezielt auf Platz 1 auf der Liste hin«

Auch bei der Kommunalwahl wolle er selbstverständlich wieder antreten: »Ich arbeite gezielt auf Platz 1 auf der Liste hin.« Er glaub, dass sich das Stadtparlament nach dieser Wahl verändern wird, spricht als »Ziel« von sechs oder mehr AfD-Stadträten. Und ja, dann werde sich an der Arbeit im Gremium etwas ändern. »Den Zahn werden wir ihnen dann ziehen, dass sie sich nicht mehr mit unseren Anträgen sachlich auseinandersetzen müssen«, sagt er mit Blick auf die anderen Fraktionen. Auf seinem Telegram-Kanal hat er die »Brandmauer«-Haltung einiger Kommunalpolitik-Kollegen als »Demokratierverweigerung« bezeichnet.

Ein Ehepaar, das ebenfalls den Achalm-Aufstieg geschafft hat, grüßt Schrade freundlich, die Frau sucht sogar den Smalltalk. Schrade grüßt freundlich zurück. Das sei er nicht unbedingt gewohnt, wenn er durch die Stadt geht. »Es ist ein doofes Gefühl durch Reutlingen zu laufen und zu wissen, dass man für 90 Prozent der Leute ein Problem ist.« Auch sein Freundeskreis habe sich vor allem in den vergangenen fünf Jahren sehr verändert. Grund zur rhetorischen Mäßigung? »Sehe ich nicht.« Ja, mit seinen radikalen Äußerungen stehe er sich »manchmal selbst im Weg«. Aber aus der Rolle des politischen Buhmanns komme er eh nicht mehr raus, befindet er.

»Es ist ein doofes Gefühl durch Reutlingen zu laufen und zu wissen, dass man für 90 Prozent der Leute ein Problem ist«

Seiner Partei und auch ihm wird oft vorgeworfen, nur zu kritisieren. Was schief läuft in Reutlingen? Da fällt Schrade auch gleich eine ganze Liste von Projekten ein. Die millionenteure Rettung der Reutlinger Stadtverkehrsgesellschaft war in seinen Augen falsch, die »Elektrobusse sind kein gutes Geschäft«, und beim Gewerbegebiet RT-unlimited sieht er nun die Verwaltung in der Pflicht sich einzugestehen, dass das »woke Gestaltungshandbuch« potenzielle Bauherren abschrecke. Was gut läuft? Da muss er deutlich länger überlegen. Die Biosphärenstadt-Idee von OB Keck sei »ein guter Zug«, das Sozialamt werde von den Kunden gelobt. Und ja, das Freibad sei auch ganz toll. Ein zweiter Lieblingsplatz für »traumhafte Sommerabende«, den er in diesem Sommer erst wieder für sich entdeckt habe. (GEA)

Lieblingsplätze

In der Serie »Lieblingsplätze« führen Kommunalpolitikerinnen und -politiker den GEA an ihre ganz persönlichen Wohlfühl-Orte, verraten, warum sie sich dort gerne aufhalten und was sie mit ihnen verbinden. Alle übrigen Gesprächsinhalte sind offen und entwickeln sich erst im Laufe des Zusammentreffen. (GEA)