REUTLINGEN. In den dunklen sehr frühen Morgenstunden gegen Jahresende gehen in der Backstube des Reutlinger Bäckermeisters Hans Wucherer seit Generationen geschichtsträchtige Sterne auf: Mutscheln. Schon als kleiner Bub hat Wucherer in den Wochen rund um den Mutscheltag am ersten Donnerstag nach Dreikönig seinem Vater bei deren Herstellung geholfen. In die Rührschüssel kommt neben wenigen Zutaten auch viel Liebe. Für eine wahre Mutschel braucht es in richtigen Anteilen Weizenmehl, Milch, Margarine, Hefe, Salz und ein wenig Wasser. Soll es ein süßes Exemplar werden, kommt Zucker dazu. Dies alles lässt Wucherer dann von einer Maschine unter seinen aufmerksamen Blicken etwa neun Minuten lang rühren. Immer wieder greift er vorsichtig mit der Hand in den Teig, um die Konsistenz zu erfühlen. »Er ist dann fertig, wenn man die Sehprobe macht – und das Licht durchscheint«, erklärt der Bäckermeister. Bei der Sehprobe muss sich der Teig ganz dünn zwischen beiden Händen ausziehen lassen.
»Mutschelteig ist fester als andere Hefeteige, damit man die Strukturen herausarbeiten kann«, sagt Wucherer. Er greift sich einen Teigbatzen, lässt ihn auf die Waage plumpsen, legt einige Bröckchen nach, entnimmt eine kleine Portion für die Verzierungen, knetet eine Kugel. Diese wird flach gepresst. Nun kommt ein Messer zum Einsatz: acht Schnitte ins Runde, die acht Zacken ergeben. Die Acht ist entscheidend. Denn »der Pfullinger Stern hat sieben Zinken«, verrät der Bäcker. Zu einer Reutlinger Mutschel gehöre auch »die Achalm in der Mitte«. Das Formen geht so schnell und routiniert, dass man genau hinschauen muss. »In der Saison mache ich heute immer fast 2 000 Mutscheln«, zählt Wucherer zusammen. Das Gebäck ist wieder beliebt, was nicht immer so gewesen ist. Nun kommt der Meister ins Plaudern.
Ehrbare Handarbeit
In den 80er-Jahren sei das Traditionsbackwerk inklusive des Mutscheltages etwas in Vergessenheit geraten, »da wurde es weniger, gab’s nur noch einige Lokale, in denen gewürfelt wurde«. Aber seit Mitte der 90er-Jahre gehe es mit dem essbaren Geschichtsgut wieder bergauf. Bei Wucherer und vielen anderen Handwerksbäckereien beginnt die Mutschelsaison am 1. Advent und endet zwei bis drei Wochen nach dem Mutscheltag. Vor Wucherer liegen jetzt auf der leicht bemehlten Holzplatte fast fertige Rohlinge. Alle Zacken sind schon dran, die Pflicht ist erfüllt, nun kommt die Kür.

Aus dem kleinen Klumpen Teig, den er nach dem Abwiegen zurückbehalten hat, formt Wucherer kunstvolle Verzierungen. »Klassische Bäckermotive wie Schnecken oder Brezeln«, beschreibt er nebenbei, während aus dünnen Teigschlangen in seinen Händen alle jene Dekorationselemente entstehen, die aus dem Gebäck Kunstwerke machen. »Ist der Kranz in der Mitte nicht geflochten, hat der Bäcker Zeit gespart«, meint Wucherer – und er spart niemals, bei keiner Mutschel. Mit gequirltem Ei bestrichen glänzen die Rohlinge verlockend, bevor sie auf dem Blech in die Hitze kommen.
»Eine Mutschel braucht im Ofen je nach Größe zwischen 20 und 45 Minuten«, spricht Wucherer, »etwa zehn Prozent Backzeit weniger als Brot.« Wenn die Zeit abgelaufen ist, duftet jedes einzelne Stück ganz verlockend. Zum Reinbeißen knusprig, dabei innen schön weich und zart. Für jeden Appetit gibt’s bei Wucherer die passende Größe – fünf Variationen liegen bei ihm im Laden. Wer sie nicht sofort essen mag, kann sie auch begrenzt aufheben. »Die großen Mutscheln halten gut zwei Tage«, ist sich der Bäcker sicher, »wobei frisch immer am besten ist.« Er selbst mag am liebsten frische kleine Mutscheln mit etwas Butter, »eine gute Mutschel muss alleine schmecken, die muss saftig sein«. Sein Geheimtipp für in Ehren alt gewordene Mutscheln: »In Scheiben schneiden und toasten, und wenn immer noch etwas übrig ist, kann man auch Knödel daraus machen.« Restlos aufgegessen werden wahrscheinlich jene Backwerke, um die seit Jahrhunderten am Mutscheltag selbst in Reutlinger Gaststätten gespielt wird.
Ein Spiel ohne Sorgen
»Es geht der Vater und der Sohn. Und mutschelt ohne Sorgen. Es laufet alles reich und arm, der Herr wie der Tagelöhner. Und sitzt da hinterm Spieltisch warm, dann wird es immer schöner. Bis morgens zwei Uhr hörst Du wohl noch Mutschler fröhlich singen. Denn mancher wird des Weines voll. Man muss ihn fast heimbringen«, heißt es in einem Gedicht von G. Bay in der Chronik von Egmont Fehleisen, aus der in einem jener legendären kleinen Büchlein zitiert wird, in denen einst der GEA über die Geschichte des Reutlinger Mutscheltags berichtet sowie die gebräuchlichsten Spiele beschrieben hat. Wer noch so ein Exemplar besitzt, kann sich glücklich schätzen. Darin zu finden sind auch erklärende Zeilen des Reutlinger Chronisten Karl Bames, die von der Zeitlosigkeit des Brauches künden: »Alle Bäcker backen an diesem Tage Mutscheln, das heißt sternartige mürbe Kuchen von drei Kreuzer an bis zu 1 Gulden 30 Kreuzer, und wenn man nur 60 bis 70 Bäcker annimmt, und im Durchschnitt soll ein Bäcker um 30 Gulden backen, so werden an diesen einzigen Tag um 1 800 Gulden Mutscheln (2 000 Gulden langen nicht, ohne den Wein, der getrunken wird) gebacken und in der Mutschelnacht herausgespielt oder auch verehrt.« Bis heute wird um Mutscheln gewürfelt. Einige Würfelspiele sowie ein Rezept für den, der es mal selbst mit dem Backen probieren möchte, gibt’s bei der Stadt im Netz. (GEA)
WÜRFELSPIELE
Man braucht immer mindestens drei Würfel und einen Würfelbecher. »Langer Entenschiss«: Hier gilt nur der Wurf, der gleichzeitig die Augen 1, 2 und 3 enthält. Wer keinen solchen Wurf hat, erhält einen Strich. Natürlich kann nach Vereinbarung auch 2 oder 3-mal geworfen werden. »Die fünf Finger«: Hier müssen die drei Würfel zusammen 5 Augen zählen. Jeder Spieler darf nacheinander zehnmal würfeln. Wer am spätesten fünf Augen (»fünf Finger«) erzielt, hat ver-loren. (pr)