REUTLINGEN. Dusan kam vor 50 Jahren aus dem damaligen Jugoslawien nach Reutlingen, seine Eltern waren Gastarbeiter. Jeyan folgte vor 29 Jahren aus Kurdistan mit den beiden Kindern ihrem Mann nach. Dilek wurde in Münster geboren und zog mit ihren türkischstämmigen Eltern als Baby vor mehr als 50 Jahren hierher. Alle drei verstehen sich als Zugewanderte oder Migranten, leben gern in der schwäbischen Großstadt, engagieren sich seit Langem in ganz verschiedenen Bereichen ehrenamtlich und wollen einen »Fußabdruck hinterlassen« - im positiven Sinn.
Mit dem Bild des Fußabdrucks wirbt auch der Integrationsrat (IR), dem sowohl der Prokurist Dusan Vesenjak (53) als auch Ingenieurin Jeyan Chalak (62) und SWR-Aufnahmeleiterin Dilek Kämmerle (52) als Sprecher angehören, und für den die Stadt Reutlingen jetzt neue Mitglieder sucht.
Ideen und Geduld sind gefragt
Dusan Vesenjak ist seit 14 Jahren Teil dieses Gremiums, Jeyan Chalak seit zehn und Dilek Kämmerle seit fünf Jahren. Kämmerle, die sich zudem schon lange im Sportkreis engagiert, kann nachvollziehen, wie Ängste in der Gesellschaft entstehen. Aber »Gott sei Dank haben wir eine Demokratie«, sagt sie, »die uns diese Ängste nehmen kann!« Ihre Erfahrungen und Ideen möchte sie mit künftig 15 weiteren sachverständigen Mitgliedern des IR und deren Stellvertreter »an die junge Generation weitergeben«.
Chalak schätzt bei dieser ehrenamtlichen Tätigkeit die Vernetzung und Hilfe beim Integrieren vor allem von Frauen. Die möchte sie nicht nur durch Sprachkurse und Hausaufgabenbetreuung der Kinder gern »rausholen« aus ihren eigenen vier Wänden, damit sie an der Stadtgesellschaft aktiv teilhaben können. Bund, Land und Stadt tun viel für Migranten und »man sollte auch etwas zurückgeben«, findet sie.
Das am längsten aktive Mitglied der drei nennt die Arbeit im Gremium, das in migrationsrelevanten Fragen Stadtverwaltung und Gemeinderat berät, aber auch öffentlich auftritt, »schön«: Man bekomme allerhand mit und sei in Kontakt mit vielen Stellen. Vesenjak weiß aber auch nur zu gut, dass zur politischen Lobbyarbeit »Geduld, Resilienz und Frustrationstoleranz« gehören. »Die Prozesse können zum Teil langwierig sein.« Seit 2011 hat er schon an einer siebenstelligen Zahl von Anträgen mitgewirkt. Damit wurden »beträchtliche Summen bewegt«. Aber bei Weitem nicht alles ist umgesetzt worden. Dennoch könne der vor 40 Jahren als Ausländerbeirat gestartete Zirkel für kommunalpolitisch interessierte Menschen auch »ein Sprungbrett sein«.
Was macht ein Integrationsrat?
Ein »Baby« des Integrationsrats, auf das alle drei sachverständigen Mitglieder sowie der Erste Bürgermeister Robert Hahn, der vom Vorsitzenden, Oberbürgermeister Thomas Keck, mit der Sitzungsleitung betraut wurde, besonders stolz sind, ist das Haus der Kulturen und Bürgerhaus in der Ringelbachstraße. »Die Idee war schon da, aber wir haben sie aufgegriffen und damit wurde ein physischer Ort geschaffen, eine ganz wichtige Begegnungsstätte«, sagt Vesenjak. Der IR hat in 40 Jahren unter anderem zudem Fußballturniere mit mehr als 1.000 Teilnehmern organisiert, drei Stadträte mit migrantischen Wurzeln im Gemeinderat verankert und bei der großen Demo gegen rechtsradikale Tendenzen vor einem Jahr öffentlich die Stimme erhoben.
Für Sultan Plümicke und Elisabeth Grüner vom städtischen Amt für Integration und Gleichstellung gehören zu den wichtigsten - haptischen - Errungenschaften zwei DIN-A-4-Druckwerke in Ringbindung: Die beiden Integrationskonzepte bieten Ressourcen und »sind eine wunderbare Grundlage für die nächsten fünf bis zehn Jahre«, sagt Amtsleiterin Plümicke. Anderes ist weniger greif- und sichtbar, zählt für Robert Hahn aber nichtsdestotrotz zu den Erfolgen des IR: Netzwerktreffen zur Arbeitsmarktintegration im Jobcenter und bei der IHK etwa, allerlei Strukturen, die geschaffen wurden, und nicht zu vergessen, »unzählige Kinder aus Vorbereitungsklassen, die soweit fit gemacht wurden, dass sie zu den Regelklassen stoßen konnten - grandios«. Es gehe darum, Themen anzustoßen und zu implementieren, die andere dann umsetzen. »Wir haben eine Inkubatorfunktion«, erklärt das einzige Mitglied des IR, das nicht ernannt werden muss.
Blick zurück und nach vorn
»Integration ist gestaltbar«, sagt Robert Hahn. Dafür sei der IR das beste Beispiel. Wie OB Keck ist er stolz drauf, dass Reutlingen damit schon 1984 in Sachen Willkommenskultur Vorreiter in Baden-Württemberg war: als erste Stadt im Land, die einen Integrationsrat hatte. Auch wenn sich die Bundesrepublik damals noch keineswegs als Einwanderungsland sah, sondern - auch von den »Gastarbeitern« selbst - als Durchgangsstation verstanden wurde, war Deutschland von Migration geprägt. Auch Reutlingen mit seinen Industrieunternehmen »war auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen«, hob der OB vor wenigen Wochen zum 40-jährigen Bestehen des IR hervor. Das gilt bis heute, nur in noch breiterem Ausmaß. Denn mit sinkenden Geburtenraten profitiert nicht nur kurzfristig die Wirtschaft von zugezogenen Menschen aus dem Ausland. Die gesamte Gesellschaft braucht sie auf lange Sicht, um Stabilität und Wohlstand zu erhalten.
Was Kandidaten mitbringen sollten
Der Reutlinger Integrationsrat tagt in der Regel sechsmal im Jahr, mittwochs ab 18 Uhr. Dazu kommt jeweils eine Vorbereitungssitzung in der Woche davor und einmal im Jahr eine Klausurtagung. Optional kommen weitere Arbeitsgruppen, Netzwerktreffen, Fortbildungen und Exkursionen dazu. Die konstituierende Sitzung ist am 10. Juli. Die Amtszeit beträgt fünf Jahre, von 2025 bis 2030.
Wer das 16. Lebensjahr vollendet hat, seit mindestens drei Monaten seinen Hauptwohnsitz in Reutlingen hat und dort auch längerfristig leben möchte, dazu biografische, berufliche oder ehrenamtliche Erfahrungen und Kompetenzen im Hinblick auf Migration und Integration mitbringt und sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt, kann sich um einen Sitz im Integrationsrat der Stadt Reutlingen bewerben.
Bewerbungen nimmt bis 28. Februar das Amt für Integration und Gleichstellung der Stadt Reutlingen entgegen. Bewerbungsformulare finden sich auf der städtischen Internetseite und sind in gedruckter Form im Rathaus erhältlich. (GEA)
www.reutlingen.de/integrationsrat
Entsprechend der zunehmend diversen Stadtgesellschaft, die Reutlingen als »Heimat« empfindet, sollen sich Bürger ab 16 Jahren über den IR einbringen. Im Juli beginnt die 9. Amtsperiode, mit dann 16 sachverständigen Mitgliedern und 12 Stellvertretern. Die aktuellen Integrationsräte zeigten »zwar keinerlei Amtsmüdigkeit«, wie Hahn erfreut feststellt. Doch der Rat altere mit seinen Mitgliedern, erklärt Elisabeth Grüner vom Amt für Integration. Deshalb wirbt auch sie um neue, junge Bewerber und verweist auf den brandneuen Image-Clip.
Das Gremium wird nicht mehr direkt gewählt. Seit zehn Jahren ernennt der Gemeinderat die Mitglieder. Die Vor-Auswahl unter allen Bewerbern trifft eine Auswahlkommission. »Wir suchen Menschen, die mitgestalten wollen«, fasst Robert Hahn zusammen. Der Pass sei dabei egal. Gesucht werden »Leute, die zum Themenbereich Migration etwas mitbringen und sich für gelingende Integrationsarbeit einsetzen«. (GEA)
https://www.youtube.com/watch?v=Djr2y4Ufaso