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Reutlingen: Kritik am abgelehnten Lärmaktionsplan

Für Betzingens Bezirksbürgermeister Friedemann Rupp ist der Reutlinger Gemeinderatsbeschluss ein »Schlag ins Kontor«. Auch in anderen Gemeinden ist man fassungslos. Grüne, SPD und Linke/Partei fordern Oberbürgermeister Thomas Keck auf, Widerspruch einzulegen.

Staugeplagtes Betzingen: Die flächendeckende Einführung von Tempo 30, von der sich der Ortschaftsrat eine Verkehrsentlastung erh
Staugeplagtes Betzingen: Die flächendeckende Einführung von Tempo 30, von der sich der Ortschaftsrat eine Verkehrsentlastung erhofft hat, ist nach dem jüngsten Gemeinderatsbeschluss erstmal passé. Foto: Steffen Schanz
Staugeplagtes Betzingen: Die flächendeckende Einführung von Tempo 30, von der sich der Ortschaftsrat eine Verkehrsentlastung erhofft hat, ist nach dem jüngsten Gemeinderatsbeschluss erstmal passé.
Foto: Steffen Schanz

REUTLINGEN. Im Juli vergangenen Jahres hat Verkehrsplaner Gerhard Lude die dritte Fortschreibung des Lärmaktionsplanes fertiggestellt und der Presse präsentiert. Bis Oktober war er in allen Bezirksgemeinden, um den Plan vorzustellen, im September war zudem eine Infoveranstaltung für die Reutlinger Bürger. Viel wurde darüber diskutiert, es gab Anregungen, Einwände, Kritik und Wünsche. Diese Woche hätte das Werk nun verabschiedet werden sollen. Doch zur großen Überraschung vieler Beteiligter verwehrte die Mehrheit des Gemeinderats die Zustimmung und lehnte den Lärmaktionsplan ab. Eine Entscheidung, die auch zu harscher Kritik führt von einigen Bezirksgemeinden und von den Befürwortern des Plans, der Fraktionen Grüne und Unabhängige, SPD sowie Linke/PARTEI.

Betzingen trifft es hart

Der Beschluss des Gemeinderates, den Lärmaktionsplan und damit eine großflächige Einführung von Tempo 30 in den Bezirksgemeinden abzulehnen, trifft Betzingen besonders hart: Der Ortschaftsrat kämpft im größten Vorort seit zig Jahren für eine Reduzierung des Durchgangsverkehrs, für sicherere und ruhigere Straßen – und war deshalb froh, mit dem Lärmaktionsplan endlich die Handhabe für die gewünschte flächendeckende Verkehrsberuhigung zu bekommen. Entsprechend groß ist der Frust über die Entscheidung des Gemeinderats. Betzingens Bezirksbürgermeister Friedemann Rupp spricht von einem »Schlag ins Kontor«: »Unsere jahrzehntelangen Bemühungen werden zunichtegemacht.«

Der Betzinger Bezirksgemeinderat war der einzige, der bei nur einer Gegenstimme der dritten Fortschreibung des Lärmaktionsplans im September vergangenen Jahres uneingeschränkt zugestimmt hatte. Schließlich hätte er dem Ort die ersehnte, fast flächendeckende Einführung von Tempo 30 gebracht. Das Gremium stand deshalb voll hinter den Plänen – und wollte noch mehr Entschleunigung, nämlich für die letzten Tempo-50-Zipfel auf der Hoffmannstraße Richtung Degerschlacht und der Wannweiler Straße bis zum Ortsausgang ebenfalls eine Geschwindigkeitsreduzierung.

Ortsvorsteher sieht Verschlechterung

Sollte der Gemeinderatsbeschluss tatsächlich umgesetzt werden, dann wäre das, so Friedemann Rupp, »das Schlechteste, was Betzingen passieren könnte«. Bliebe alles beim Alten, also bei Tempo 40 oder 50, wäre das seiner Meinung nach vor allem für die viel befahrene Heppstraße gravierend, weil sich die Betzinger durch die Tempodrosselung eine Reduzierung des Durchgangsverkehrs erhoffen. Ebenso für die Olgastraße und Julius-Kemmler-Straße. »Kommt das nicht, haben die Bürger das Nachsehen, die dort seit Jahrzehnten für Tempo 30 kämpfen.« In der anderen Alternative, der von der CDU geforderten durchgängigen Tempo-40-Regelung, sieht Rupp sogar eine »wesentliche Verschlechterung«. Schließlich würde sie für etliche Straßenabschnitte eine Geschwindigkeitserhöhung bedeuten. »Also wieder mehr Verkehr, wieder mehr Belastung, wieder mehr Lärm – das geht gar nicht.«

Enttäuscht vom Gemeinderat

Der Kampf gegen Durchgangsverkehr und für mehr Sicherheit auf den Straßen sei eines der wichtigsten Anliegen des Ortschaftsrates, erinnert der Bezirksbürgermeister. Vor etwa 15 Jahren habe man damit begonnen, auf Teilstücken Tempo 30 auszuweisen, oft habe die Straßenverkehrsordnung nicht mehr hergegeben. Jetzt hätte mit dem Instrument des Lärmaktionsplans aus dem Stückwerk endliche eine einheitliche Lösung werden können. Doch das, bedauert Friedemann Rupp, sei jetzt erstmal in weite Ferne gerückt. »Ich bin sehr enttäuscht vom Gemeinderat.« Denn der habe nicht nur am Bezirksgemeinderat, sondern auch »an der Bevölkerung vorbei beschlossen«. Diese Einschätzung kommt nicht von Ungefähr. Er habe, so Rupp, in der Einwohner- oder Bürgersprechstunde noch keinen erlebt, der sich für schnelleres Fahren ausgesprochen habe – aber viele, die sich in ihren Straßen Tempo 30 wünschen. »Das Argument, dass die Bürger das nicht wollen, stimmt für Betzingen nicht.«

Unverständnis in Reicheneck

»Wir sind furchtbar enttäuscht«, kommentiert Reichenecks Bezirksbürgermeister Ulrich Altmann die Entscheidung des Gemeinderates, »man hat sich sehr lange mit dem Lärmaktionsplan beschäftigt. Wir waren zuversichtlich, dass wir endlich eine einheitliche Regelung hinbekommen«. Vier Sitzungen lang habe sich das Parlament des idyllischen Teilortes mit dem Thema beschäftigt, an zwei Abenden gemeinsam mit Gerhard Lude vom Verkehrsamt der Stadt. Nach der Enttäuschung, zunächst an Tempo 50 auf der noch nicht mal einen Kilometer kurzen Ortsdurchfahrt festhalten zu müssen, sei man optimistisch gewesen, nunmehr doch wie gewünscht »Tempo 30 von Ortsschild zu Ortsschild« zu bekommen. In Richtung des Reutlinger Rathauses meint Altmann: »Ich verstehe nicht, dass man keinen Kompromiss gefunden hat«. Er müsse gemeinsam mit den Bezirksgemeinderäten »erst mal schauen, wie es weitergeht«.

Degerschlachtern fehlen die Worte

Eigentlich will die Degerschlachter Bezirksbürgermeisterin Ute Dunkl am liebsten gar nichts zu der Entscheidung des Gemeinderats sagen, wie sie auf Nachfrage des GEA betont. »Mir fehlen die Worte.« Der Bezirksgemeinderat hat sich in mehreren Sitzungen mit dem Plan befasst, lange sei an dem Thema gearbeitet worden, schließlich wurden Beschlüsse gefasst, man habe auch durchaus das Gefühl gehabt, dass auf die Wünsche und Anregungen aus den Bezirksgemeinden eingegangen wurde. »Und jetzt wurde alles gecancelt?«, fragt Dunkl. Damit habe sie nicht gerechnet. Dabei ging es den Degerschlachtern gar nicht so sehr darum, ob nun Tempo 30 oder 40 gilt, sondern vor allem um ein einheitliches Tempo statt der »Salamitaktik«. Weshalb sich die Räte auf 30 geeinigt hatten, Tag wie Nacht und das auf der ganzen Ortsdurchfahrt.

Heikle rechtliche Lage

Die Befürworter des Lärmaktionsplans, die Gemeinderäte der Fraktionen Grüne und Unabhängige, SPD sowie Linke/PARTEI fordern Oberbürgermeister Thomas Keck dazu auf, Widerspruch gegen den Beschluss einzulegen. Die Ablehnung des Lärmaktionsplans sei nicht nur politisch unverantwortlich, sondern »ersichtlich rechtswidrig«, so die Fraktionssprecher Dr. Karsten Amann, Katharina Ernst (Grüne und Unabhängige), Helmut Treutlein (SPD) sowie Rüdiger Weckmann (Linke/PARTEI): »Das Nein der Gemeinderatsmehrheit zu Temporeduzierungen an besonders belasteten Straßenabschnitten ist nicht nur ein Nein zu wirksamem Schutz der Bürger vor Straßenlärm. Es verstößt auch gegen geltendes Recht, nämlich die bindenden Vorgaben der EU-Umgebungslärmrichtlinie, die nationalen Umsetzungsgesetze und den Kooperationserlass des Landes.«

Der OB solle innerhalb von drei Wochen eine neue Sitzung des Gemeinderats einberufen, um die Beschlüsse zu korrigieren. »Wir haben den Lärmaktionsplan ausführlich beraten, die Wünsche der Bezirksgemeinden sind in den Beschluss eingeflossen. Wir dürfen nicht so tun, als ginge uns der Schutz vor Verkehrslärm in Reutlingen nichts an. Wir müssen uns an geltendes Recht halten und dürfen nicht warten, bis uns das Regierungspräsidium einen ablehnenden Bescheid schickt. Eine erneute Beratung im Gemeinderat vermeidet einen solchen erwartbaren Rufschaden«, so die Fraktionssprecherinnen und -sprecher. (GEA)