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Reutlingen erteilt Fahrverbot für Hebamme: Zu Recht?

Eine Hebamme wird auf dem Weg zu einer Geburt in Reutlingen geblitzt. Die Folge: Ein Monat Fahrverbot und 300 Euro Geldstrafe. Der Fall zeigt ein grundsätzliches Dilemma.

Hebammen sind verunsichert, in welchen Fällen sie auf dem Weg zu einer Geburt gegen das Tempolimit verstoßen dürfen. Foto: Kieferpix/Adobe stock
Hebammen sind verunsichert, in welchen Fällen sie auf dem Weg zu einer Geburt gegen das Tempolimit verstoßen dürfen.
Foto: Kieferpix/Adobe stock

REUTLINGEN. Eine hochschwangere Frau hat starke Wehen. Kurz nach fünf Uhr morgens ruft sie ihre Hebamme an. Ina Khaikina, Geburtshelferin aus Eningen, greift nach ihrer Tasche und springt ins Auto. Sie tritt aufs Gas. In Betzingen nimmt sie aus dem Augenwinkel eine mobile Radarfalle wahr. Sie bremst nicht, es blitzt. »Ich habe mich bewusst dazu entschieden, weil ich in anderen Landkreisen wie in Tübingen in solchen Fällen nie eine Strafe bekommen habe.« Wenige Minuten später erreicht sie das Haus der Frau, kurz darauf kommt das Baby gesund zur Welt. Nach einige Wochen wird ihr der Bußgeldbescheid zugestellt: ein Monat Fahrverbot und 300 Euro Strafe. Das ist wenig überraschend. Schockiert hat sie dagegen, dass ihr Widerspruch anders als erwartet von der Stadt Reutlingen abgelehnt wurde. Ina Khaikina versteht die Welt nicht mehr. »Ich habe ein Baby sicher zur Welt gebracht – und werde dafür bestraft?«

»Am Telefon kann ich nicht beurteilen, ob eine Geburt normal verläuft«

In einer Stellungnahme hat die Hebamme ihren Tempoverstoß mit Verweis auf einen »rechtfertigenden Notstand« begründet. Aus Sicht der 50-Jährigen war es gerechtfertigt, in Betzingen mit 73 km/h statt der erlaubten 40 km/h unterwegs zu sein. »Am Telefon kann ich nicht beurteilen, ob eine Geburt normal verläuft. Den Zustand von Mutter und Kind kann ich nur vor Ort richtig einschätzen.« In anderen Landkreisen wie in Tübingen seien vergleichbare Bußgeldverfahren nach ihrem Widerspruch und der Darlegung der Gründe eingestellt worden. Doch die Stadt Reutlingen blieb hart und bestand auf der Strafe. Also nahm sich Ina Khaikina einen Anwalt.

»Ich hätte mir wenigstens gewünscht, dass das Fahrverbot in eine höhere Geldstrafe umgewandelt wird.« Denn ein Fahrverbot kommt für sie als selbständige Hebamme einem Berufsverbot gleich. Ohne Führerschein sind Hausbesuche quasi nicht möglich. Und ohne diese kommt kein Geld aufs Konto. »Für mich ist es existenziell notwendig, mobil zu sein.« Zudem bedeute das in Zeiten des Hebammenmangels eine weitere fehlende Fachkraft. Doch auch das Amtsgericht Reutlingen entschied gegen sie. Ihr Fall sorge nicht nur bei ihr selbst, sondern auch bei vielen ihrer Kolleginnen für große Verunsicherung: Dürfen sie nun auf dem Weg zu einem Einsatz schneller fahren als erlaubt - oder nicht?

Rechtfertigender Notstand muss nachgewiesen werden

Immer wieder geraten Hebammen, Hausärzte und freiwillige Einsatzkräfte in einen Konflikt zwischen Berufsethos und Gesetz. Sonderrechte wie das Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit räumt die Straßenverkehrsordnung (StVO) nur bestimmten Institutionen ein: Polizei, Bundeswehr, Bundespolizei, Feuerwehr, Katastrophenschutz und Zoll. Auch Fahrzeuge des Rettungsdienstes dürfen von den Vorschriften der StVO abweichen, »wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden«. Doch auch für sie gelten per Gesetz Grenzen: Sie müssen darauf achten, dass keine anderen Verkehrsteilnehmer zu Schaden kommen.

Wann Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst zu schnell fahren dürfen

Laut Paragraf 35 der Straßenverkehrsordnung (StVO) sind unter anderem Polizei, Feuerwehr und Technisches Hilfswerk (THW) von den Vorschriften der StVO – etwa Tempolimits – befreit, sofern dies zur »Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben« erforderlich ist. Die Sonderrechte gelten auch für Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr, sobald der Alarm eingeht – auch bei Fahrten mit dem eigenen Auto zur Wache oder zum Einsatzort. Auch Fahrer von Rettungsdiensten dürfen schneller unterwegs sein, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden.

Eine besondere Kennzeichnung des Fahrzeugs ist für die Inanspruchnahme von Sonderrechten nicht zwingend erforderlich. Allerdings heißt es in Paragraf 35 StVO: »Bei Fahrten, bei denen nicht alle Vorschriften eingehalten werden können, […] soll, wenn möglich und zulässig, die Inanspruchnahme von Sonderrechten durch blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn angezeigt werden.«

Die Polizei verzichtet gelegentlich aus »ermittlungstaktischen Gründen« auf Blaulicht und Martinshorn, ist dann aber dennoch berechtigt, schneller zu fahren. Sind Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet, greift für Polizei, Feuerwehr, THW und Rettungsdienst zusätzlich das Wegerecht. Laut Paragraf 38 StVO müssen alle anderen Verkehrsteilnehmer dann »sofort freie Bahn schaffen«. Generell dürfen Sonderrechte nur unter »gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« genutzt werden. (GEA)

Für Otto-Normal-Autofahrer, darunter auch Hebammen und Ärzte im Privatauto, gilt: Wer eine Strafe für zu schnelles Fahren abwenden will, muss einen »rechtfertigenden Notstand« nachweisen. Ob dieser vorliegt, entscheiden die Bußgeldstellen im Einzelfall. In Reutlingen bewerten zwei Mitarbeiter des Ordnungsamts unabhängig voneinander die Sachlage, erklärt Amtsleiter Albert Keppler. Ähnlich wird es in Tübingen gehandhabt. Beide Städte berufen sich auf das Ordnungswidrigkeitengesetz. Ein »rechtfertigender Notstand« liegt demnach nur vor, wenn eine nicht anders abwendbare Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit besteht – und diese die Verkehrssicherheit wesentlich überwiegt. Dabei spielen auch Örtlichkeit und Tageszeit eine Rolle.

Lösung für Blitzer-Dilemma nicht in Sicht

In der Praxis ist es für Hebammen und Ärzte äußerst schwer, Geschwindigkeitsüberschreitungen mit einem Notstand zu rechtfertigen, sagen Verkehrsrecht-Experten. »Die Abwägung der einzelnen Interessen ist nicht immer ganz einfach«, gibt Keppler zu. Er verweist auf eine allgemeine Einschätzung in der Rechtsprechung: Innerorts bringe eine erhöhte Geschwindigkeit nur wenig Zeitvorteil. »Wer wirklich Zeit herausholen will, muss sehr schnell fahren – aber dann wird es gefährlich.« Notfälle werden aber nicht als solche anerkannt, wenn nicht schnell genug gefahren wurde, um einen spürbaren Zeitgewinn zu erzielen. Viele Richter sehen es außerdem als unverhältnismäßig an, wenn Hebammen und Ärzte mit überhöhter Geschwindigkeit durch Städte oder über Land fahren und dabei andere gefährden. Besonders, da ein ohnehin mit Sonderrechten ausgestatteter Rettungsdienst alarmiert werden könnte.

Auch Ina Khaikina bekam vom Richter zu hören, sie hätte im Zweifel den Rettungsdienst rufen sollen, wenn die Frau nicht in der Lage gewesen sei, das Kind selbst zur Welt zu bringen, erzählt die Eningerin. Doch sie, selbst ausgebildete Rettungssanitäterin und in der Malteser-Schule als Dozentin aktiv, hält dagegen: »Die Kollegen sind für Geburten gar nicht richtig ausgebildet.«

Eine Lösung für das Blitzer-Dilemma ist nicht in Sicht. Ina Khaikina wünscht sich, dass Richter ihre Bewertung von Notlagen überdenken – oder zumindest klarere Vorschriften geschaffen werden. So lange es die nämlich nicht gibt, und die Einzelfallentscheidungen der Kommunen und Gerichte uneinheitlich bleiben, müssen sich Hebammen weiterhin zwischen dem Wohl von Frau und Kind oder einer möglichen Strafe für sich selbst entscheiden. Die Eninger Hebamme würde beim nächsten kritischen Einsatz im Zweifel wohl wieder aufs Gas drücken. (GEA)