REUTLINGEN. Es war ein absolut ungewöhnliches Bild: Am Sonntagnachmittag eroberten tausende Radfahrer die Bundesstraße zwischen Reutlingen und Tübingen. Sie demonstrierten für Klimaschutz, bessere Radwege und weniger Autos. Von der Reutlinger Stadthalle ging's zum Tübinger Europaplatz.
Das Anliegen. Der europaweite Mobil-ohne-Auto-Tag war Anlass für die große Rad-Demo. Das historische Vorbild für die Bundesstraßen-Fahrt datiert aufs Jahr 1981. Dem GEA vom 1. Juni 1981 ist zu entnehmen, dass Staatssekretär Erhard Mahne bei dieser Demo verkündet habe, dass das Fahrrad als alternatives Verkehrsmittel wieder »Zukunft habe«. Er warnte aber vor einer »Ideologisierung« der verschiedenen Verkehrsmittel und Verkehrswege »unter Verteufelung der anderen Verkehrsmittel«. Ähnliches betont an diesem Sonntag auch Ex-Grünen-Stadtrat und Demo-Mitorganisator Holger Bergmann (ADFC): »Wir demonstrieren auf keinen Fall gegen Autos, sondern für ein fröhliches Fahrradfahren.« Ganz ohne Kampf gegens Auto geht es dann aber doch nicht: Einige Demo-Teilnehmer können sich spitze Kommentare gegen wartende Autofahrer und die ebenfalls autofahrende Presse nicht verkneifen.
Beeindruckende Anzahl. Die Webcam der Stadt Reutlingen zeigt um 14 Uhr ein beeindruckendes Bild von der Stadthalle, das an einen Ameisenhaufen erinnert. Bürgerpark, Stadthallen-Vorplatz, Teile der Straße in Richtung Tübinger Tor: Zweiräder und stolze Fahrer, so weit das Auge reicht. »Grob 5.000 Teilnehmer« habe ein Kollege geschätzt, sagt ein Polizeisprecher später dem GEA. »Intern haben wir gesagt, 200 Radfahrer sollten es mindestens sein, wenn's 500 sind, sind wird glücklich«, sagt Mit-Organisator Reinhard Beneken (BUND) am Ende der Demo. »Aber jetzt sind wir einfach überglücklich!« Die Teilnehmer sind aus verschiedensten Orten in den Landkreisen Reutlingen und Tübingen angereist.
Die Teilnehmer. Und sogar aus dem Landkreis Esslingen, wie Familie Lang. Vergangene Woche hätten sie schon in Nürtingen bei der großen Rad-Demo mitgemacht, erzählt Jasmin Lang im Gespräch mit dem GEA. Dann habe sie im Whatsapp-Status eines befreundeten Ehepaars aus Wannweil gesehen, dass es auch in Reutlingen eine große Aktion gibt. Für die Langs, die in Frickenhausen leben, war sofort klar: »Da machen wir auch mit!« Gemeinsam mit den beiden kleinen Töchtern, ein und drei Jahre alt, hat die Familie erst eine dreieinhalbwöchige Radreise mit den Lastenrädern gemacht, von Ulm ging's bis nach Wien. Christine Gafner pendelt oft mit dem Rad von Tübingen bis nach Hechingen zur Arbeit.
Das dauert dann - wenn man Hin- und Rückweg zusammenzählt - schonmal zweieinhalb Stunden. »Jeden Tag ist das deswegen auch nicht machbar«, sagt sie. Gemeinsam mit ihrer Frau Manuela, die ebenfalls per Rad zur Arbeit fährt, ist sie an diesem Sonntag zur Demo gekommen.
Kritik. »Die Anbindung von Wannweil an den Neckartalradweg muss besser werden«, findet Katharina Härter. Sie strampelt rund 11 Kilometer von ihrem Heimatort Wannweil nach Tübingen zur Arbeit - weiß also, wovon sie spricht. Auch neun Mitglieder der Grünen Jugend Tübingen nehmen an der Demo teil, darunter Jung-Stadtrat Manoah Kunze und Finn Schwarz, Sohn des Reutlinger PARTEI-Stadtrats Andreas Schwarz. »Das Radwege-Netz in Reutlingen ist nicht optimal«, sagt Richard Langer, der Sprecher der Grünen Jugend. »Viele zentrale Routen sind nur für Autos ausgelegt. Andere sind gefährlich für Radfahrer.« Die jungen Tübinger haben täglich vor Augen, wie es anders gehen kann: In der Unistadt werden seit 2020 jährlich 79 Euro pro Einwohner für den Ausbau des Wegenetzes ausgegeben. Damit hat sich Tübingen an die Spitze der bundesdeutschen Städte und Gemeinden gestellt. Da wundert's kaum, dass auch Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, selbst passionierter Radfahrer, an der großen Demo teilnimmt. Im knallgelben Rad-Dress ist er in die Nachbarstadt gekommen, er fährt am Ende des langen Trosses. Da gibt's mehr Lücken, das Teilnehmerfeld ist lichter - und er kann zügiger fahren.
Viel Spaß. Die Demo gleicht in großen Teilen einer fröhlichen Party. Manche Radfahrer haben Boxen mitgenommen, aus denen Musik schallt. Andere unterhalten sich gut gelaunt über Radwege, die Politik und das Wochenende. Eine Radlerin hat ihren Hund in dem Korb sitzen, der am Lenker hängt. Vereinzelt haben sich auch Rollerfahrer und Inlineskater unter die Menge gemischt, die zum allergrößten Teil bestens gelaunt ist. So wird fröhlich den vielen Fotografen zugewunken, die vor allem auf den Brücken über die Bundesstraße stehen und das Geschehen ablichten. Viele Kinder fahren mit, Senioren auf E-Bikes wie auch junge Rennradfahrer. Für sie ist die Demo dann aber teilweise etwas zu gemütlich ...
Die Sperrung. Die Polizei sperrt die Bundesstraße an diesem Sonntag abschnittsweise und nicht komplett, um das Verkehrschaos zu minimieren. Mit 10 bis 15 Stundenkilometern fährt ein Polizeiauto voraus und führt den Tross an. Was zu Gemecker bei Radlern führt, die sich ausgebremst fühlen. Und ebenso bei Autofahrern, die im Stau landen. Dieser entsteht vor allem hinter der Rad-Demo: Von der Höhe des Gas-Kessels der Fair Energie bis zur ersten möglichen Abfahrt, nämlich der nach Betzingen, benötigten die Autofahrer rund 20 bis 30 Minuten. Auch an den Auffahrten, die abschnittsweise gesperrt werden, stehen Kraftfahrer und müssen warten.
Mehrere Kundgebungen. Sowohl am Start- als auch am Zielort der Rad-Demo gibt es kurze Beiträge. So redet beispielsweise Daniel Scheu, der im Reutlinger Rathaus die Taskforce Rad leitet. Mitten auf der Bundesstraße gibt's auch einen kurzen Stop, Peter Elwert von Pro RegioStadtbahn spricht über die Stadtbahn, das wohl größte Mobilitätsprojekt des Jahrhunderts. Am Ziel, in Tübingen, ruft Verena Ludwig (Parents for Future) alle Teilnehmer auf, sich jährlich für einen autofreien Sonntag auf der B 28 einzusetzen. Tübingens Baubürgermeister Cord Soehlke lädt alle Demonstranten dann ein, in gleicher Anzahl zur Eröffnung der großen neuen Radbrücke West Mitte Oktober zu kommen.
Weitere Meinungen. An einer Umfrage auf dem GEA-Instagram-Kanal nehmen innerhalb von drei Stunden 1.014 Menschen teil. 45 Prozent, also 459 Nutzer, finden, dass die Raddemo eine »gute und wichtige Aktion« ist. 55 Prozent der Umfrageteilnehmer, also 555 Nutzer, finden die Aktion »nicht gut«. Es gebe viele gute Radwege, die nicht oder nur wenig genutzt werden, schreiben viele Follower auf Instagram. Eine Nutzerin fordert »insgesamt mehr Radwege«, beispielsweise »zwischen Eningen und Metzingen«. Eine andere Nutzerin schreibt: »Ohmenhausen hat keinen sicheren durchgängigen Radweg für Schüler nach Reutlingen«. Ein Nutzer lobt die Aktion und fordert »die Gleichberechtigung von Auto und Fahrrad«, ein anderer kritisiert: »Es braucht dringend Schulungen für Radfahrer in puncto Straßenverkehrsordnung.« (GEA)




