REUTLINGEN. Wenn ein Nähkästchen plaudern könnte, wovon würde es erzählen? Von Stickerinnen, Klosterarbeiten und Segelmachern, von Zeitvertreib und Gelderwerb. Denn dem Fingerhut und Nadelkissen, der Fadenspule und Schere kamen in Adelskreisen und bei einfachen Leuten einst unterschiedliche Bedeutungen zu. Was für feine Damen ein lässlicher Luxus war, brauchten Weißnäherinnen zur Existenzsicherung. In 45 Jahren hat eine Reutlingerin allerlei Utensilien zum Nähen, Klöppeln, Sticken und Häkeln gesucht, gefunden und aufgekauft. Seit 1979 ist so eine beträchtliche Sammlung entstanden.
Ausgehend von einem Fingerhut, den sie zur Konfirmation geschenkt bekam, hat Ursula Müller-Wiese auf Auktionen, Märkten und in Antiquitätenläden mehr als 800 Exemplare des zum Schutz der Fingerkuppen beim Nähen, Stopfen und Sticken genutzten Objekts gesammelt. Da man »mit einem Fingerhut allein nichts machen kann«, kamen später Nadeln, Einfädelhilfen, Garnrollen, Scheren, ein Ellen-Maßstock aus Holz, Stoffmaßbänder und viele weitere Handarbeitsutensilien dazu. Originell gestaltet und verpackt sind das oftmals kuriose Preziosen, die an aussterbende Fertigkeiten erinnern. Wer wüsste zum Beispiel noch, was »Frivolitätenarbeit« ist?
Die Sammlung der 82-Jährigen führt in längst vergangene Zeiten, aber auch in viele Ecken Europas, aus denen die Stücke stammen: praktische Accessoires, originelle Erinnerungsstücke und Liebhaber-Spinnereien wie das Nähnecessaire, das in eine Walnussschale passt. Wurde das je benutzt?

Ihr ältester Fingerhut stammt von Ausgrabungen bei Amsterdam, ein edles Nähnecessaire aus dem Paris der 1880er-Jahre. Da das Werkzeug samt kleinem Parfümflakon eine zylinderförmige Lederhandtasche ausfüllt, ist dabei das Nützliche mit dem Schönen vereint. Das gilt auch für eine Art kunstvoll in Silber gearbeitete Miniatur-Schneider-Werkstatt, die als Chatelaine-Anhänger am Gürtel um die Taille getragen stets griffbereit ist.

Als Tochter einer Schneidermeisterin kam Ursula Müller-Wiese 1942 in Münster zur Welt. Ohne Kriegerwitwenrente war Nähen, Flicken und Stopfen für ihre Mutter kein Zeitvertreib, »sondern eine Möglichkeit, um Kleidung, Bettzeug und Wohnaccessoires selbst herzustellen oder zu reparieren.«

Sie selbst wurde dadurch mit Stoffqualitäten und Schnitttechniken schon früh vertraut. Spatenkragen, Schinkenärmel, Wiener Nähte - alles Begriffe, die ihr geläufig sind und sie »als Ästhetin ansprechen«.
Klein, vielfältig und aussagekräftig
Mitte der 1960er-Jahre hat die medizinisch-technische Assistentin ihren späteren Mann kennengelernt. Sie heiratete in eine sammelfreudige Reutlinger Familie ein. Fingerhut-Ausstellungen im Matthäus-Alber-Haus, in Pforzheim und Schwäbisch Gmünd gaben schließlich die Initialzündung für die eigene Sammeltätigkeit.
Fingerhüte sind »klein, vielseitig und aussagekräftig«, erklärt sie. Erst passten sie in einen Setzkasten, später füllten sie eine Nussbaumvitrine, bevor die dreifache Mutter Vitrinen des Reutlinger Museumsarchitekten Michael Schödel anfertigen ließ, um ihre vielfältigen Fingerkuppenhüter aus Silber, Kupfer, Alu, Porzellan und Kunststoff für sich und ihre Besucher zu präsentieren.
Neben Werbeträgern finden sich welche, die als Souvenirs aus Städte oder Regionen heutige Kühlschrankmagnete vorwegnahmen. Müller-Wiese nennt sie »die kleinste Litfaßsäule der Welt«. Einige verbreiten politische Propaganda: »durch Kampf zum Sieg«, »Heil und Sieg« oder »Gott strafe England« steht auf einem von 1916.
Mit anderen wollte sich der Schenkende in Erinnerung halten - »for a good girl« steht auf einer Konfirmationsgabe -, Besitzer-Monogramme signalisierten »das gehört zu mir«.
Bald kamen Nadelkissen, Nadeltönnchen und andere Behälter für Steck-, Stopf- und Nähnadeln, Stricknadelhalter, Häkel- und Tamburiernadeln für Stickereien in Kettenstich dazu. Auch ein Wollkugelhalter findet sich in Müller-Wieses Sammlung. Damit konnten etwa Spitzenkrägen in Occhitechnik - nach dem Französischen Frivolité auch »Frivolitätenarbeit« genannt - »im Laufen« vollendet werden.
Utensil und Verpackung
»In der bürgerlichen Biedermeierzeit hat jeder Handwerksgegenstand ein Schächtele gebraucht«, erläutert Ursula Müller-Wiese zu Köchern, Kästchen und Etuis aus Silber, Gold, Email, Leder oder kunstvoll geschnitztem Holz und Elfenbein für Nadeln und Fingerhüte. So manche Verpackung ist mehr wert als das darin gehütete Objekt.
Die Sammlerin sieht sich als »temporäre Hüterin von Schönheit«, als »Bewahrerin« alter Handarbeitsutensilien und des Wissens, das sich drumherum spinnt. Zu manchem Stück hat sie Bilder aus Auktionskatalogen ausgeschnitten, auf Kärtchen Herkunft und Entstehungszeit vermerkt.
Übers Nähkästchen geplaudert
»Fingerhüter« durften wie Zünfte einst als »geschlossenes Gewerbe« ihre spezifischen Kenntnisse nur an andere Fingerhüter weitervererben, berichtet Müller-Wiese. Bis in die 1960er-Jahre stammten 85 Prozent des weltweiten Bedarfs an Fingerhüten von der Fabrik der Gebrüder Gabler aus Schorndorf. Weißnäherinnen waren auch in Reutlingen bis zur Hälfte des vergangenen Jahrhunderts meist alleinstehende Frauen, die jeweils zwei bis drei Tage in fremden Haushalten lebten. Dort fertigten sie Laken, Tischdecken und Handtücher, oft aufwändig mit Spitzen und Stickerei verziert. »Bei den Herren des Hauses waren sie meist unbeliebt, da eine Nähmaschine auf dem Küchentisch alles durcheinanderbrachte.«

So stecke eine ganze Kulturgeschichte der Frauen in Nähutensilien, findet Ursula Müller-Wiese. Ihre Leidenschaft dafür blieb über die Jahrzehnte unverändert. Doch mit zunehmendem Alter lässt das Gedächtnis nach. Deshalb macht sie sich nun Gedanken darüber, was aus ihrer Sammlung wird. Sie zu verkaufen wäre illusorisch. Wichtig ist ihr, dass alles zusammen bleibt und weiterhin gut aufgehoben wird.
Vieles hat sie schon »auf Transport vorbereitet«. Sollte eine Institution, auch im weiteren Umkreis, Interesse haben, würde sich die Reutlingerin freuen. Denn, »ohne anzugeben, das ist in Baden-Württemberg eine elitäre, kulturhistorisch interessante Sammlung«. (GEA)