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Aktuell Integration

Plötzlich »nur noch« Muslim

REUTLINGEN. »Hoffentlich war das kein islamischer Fundamentalist«: Als am 22. Juli 2011 die ersten Nachrichten vom Attentat in Oslo über die Ticker liefen, befielen Ibrahim Cömert, Erdogan Akcagümüs und Ramazan Selcuk mit dem Schrecken auch Furcht und die Erinnerung an den 11. September 2001.

Integration ist Arbeit, wissen Ramazan Selcuk (von rechts), Erdogan Akcagümüs (mit Frau Aloisia) und Ibrahim Cömert. FOTO: TRINK
Integration ist Arbeit, wissen Ramazan Selcuk (von rechts), Erdogan Akcagümüs (mit Frau Aloisia) und Ibrahim Cömert. Foto: Gerlinde Trinkhaus
Integration ist Arbeit, wissen Ramazan Selcuk (von rechts), Erdogan Akcagümüs (mit Frau Aloisia) und Ibrahim Cömert.
Foto: Gerlinde Trinkhaus
Die drei Männer, die im Vorstand des »Türkischen Kultur- und Integrationsvereins Reutlingen« um ein gedeihliches Zusammenleben der Kulturen kämpfen, haben erlebt, wie vor zehn Jahren die Anschläge islamistischer Terroristen weltweit Misstrauen und Hass gegen Muslime säten. Auch in Reutlingen habe sich »die Stimmung gegenüber den Muslimen verschlechtert«, sagt Ibrahim Cömert, der Vorsitzende des Vereins.

»Man sagt doch auch nicht katholischer Terrorist«
Beschimpfungen von Frauen, die ein Kopftuch tragen, muslimische Kinder, die plötzlich bei Klassenkameraden daheim unerwünscht waren: Vereinzelt wurden ganz deutliche Auswirkungen dieses Stimmungswandels sichtbar.

Subtiler, aber nachhaltiger wirkte eine Wahrnehmung, die Ramazan Selcuk präzisiert: »Nach dem 11. September 2001 ist meine muslimische Identität auf einmal wichtig geworden«, sagt der 48-jährige Hochschullehrer, der stellvertretender SPD-Stadtverbandsvorsitzender ist. »Ich wurde plötzlich als Muslim wahrgenommen und ich wurde darauf reduziert.«

Die Muslime ihrerseits waren verunsichert. Ibrahim Cömert erinnert sich, dass ihm kurz nach den Anschlägen der Vermieter seines Büros die Kündigung überreichte. Angeblich weil er die Räume selber benötige. »Er hat Angst bekommen«, sagt der 53-jährige Betriebswirt, schränkt auf Nachfrage aber ein, dass dies nur seine Vermutung ist.

Bei aller Zerstörungskraft, die der 11. September entwickelte, war er doch für die drei Männer - wie für viele andere um Frieden und Verständigung Bemühte - Ansporn, sich verstärkt für die Integration einzusetzen.

Eine Bemühung, die in Reutlingen auf fruchtbaren Boden gestoßen sei. So sei unter anderem der Dialog mit den deutschen Behörden intensiviert worden. Das »Hand-in-Hand«-Projekt ist ein Beispiel für die Anstrengungen vor Ort, die Annäherung der Kulturen weiterzutreiben. Derbe Dämpfer erhält sie nach Auffassung der Männer weiterhin vor allem auf der großen überregionalen Polit-Bühne: Aktionen wie die Einführung des Einbürgerungstests sind nach ihrer Auffassung der grobe Sand im Getriebe der Integration. Über Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« und die sich anschließende Debatte hätten sich vor allem gebildete Muslime sehr geärgert, wettert Selcuk gegen den Parteigenossen. »Das schmälert das Zugehörigkeitsgefühl.«

Über die Medien werden diese Debatten und das sie begleitende Getöse in die Köpfe verteilt. Selcuk kritisiert, dass auch seriöse Blätter wie der »Spiegel« dabei oft Stereotype bedienen: etwa mit Fotos, die muslimische Frauen bevorzugt beleibt und verschleiert zeigen.

Die notorische Wiederholung der Religionszugehörigkeit beim »islamischen Terroristen« findet Cömert unangebracht: »Man sagt doch auch nicht katholischer Terrorist.«

Dennoch sind sich die Männer einig, dass die »tatsächliche Integration weiter fortgeschritten ist als die gefühlte. Wir sind auf einem guten Weg in Deutschland«.

Und alle sind gefordert, ihn zu beschreiten: Selcuk erinnert daran, dass die Hälfte der Kinder, die heute in Reutlingen geboren werden, Migrationshintergrund haben. »Wir sind aufeinander angewiesen. Wir müssen zusammenarbeiten.«

Integrieren heiße auch, das Verbindende, nicht das Trennende hervorzuheben. Einer, der das früh erkannt hat, ist Vorstandsmitglied Erdogan Akcagümüs, der 1960 als Student unter die Achalm kam. Mit dem »Türkischen Arbeiterverein« hat er damals in seine »zweite Heimat Reutlingen« die Samen für den heutigen Verein gesteckt - zu einer Zeit, als das Wort Integration noch nicht in aller Munde war. Sein Patentrezept: »Ich habe die Politik immer aus dem Verein herausgehalten.« Aus der Politik wiederum müsse man den Glauben fernhalten. »Wenn man mit Glauben Politik macht, wird nichts Gutes draus. Bei jeder religiösen Gruppe gibt es Fanatiker.«

Wie die anderen beiden Männer auch ist der 76-Jährige gläubiger Muslim, der regelmäßig die Yunus-Emre-Moschee besucht. Seine Frau Aloisia ist Christin und begleitet ihn in die Wörthstraße - und er geht mit ihr in die Kirche.

Akcagümüs ist jetzt 76 Jahre alt und hat schon viele Bezeichnungen für Fremdsein über sich ergehen lassen: »Erst war ich Gastarbeiter, dann Migrant, dann ein Deutscher mit Migrationshintergrund. Ich aber möchte ein Reutlinger sein, der hier mit dem Herzen aufgenommen ist.« (GEA)

Der türkische Kultur- und Integrationsverein

Ringelbachstraße 195/M: Offen für alle Muslime aller Couleur, Christen, Menschen ohne Religion: »Offen« für alle, lautet die Devise des »Türkischen Kultur- und Integrationsvereins Reutlingen«. Der Verein, der derzeit knapp hundert Mitglieder zählt, hat das Miteinander der Kulturen im Blick. In Zusammenarbeit mit der Kreuzkirche wird der christlich-muslimische Dialog gepflegt.

Demnächst soll ein deutsch-türkischer Projektchor gegründet werden. Im kommenden Jahr ist eine gemeinsame Reise für deutsche und türkische Jugendliche in die Türkei geplant. Der Verein versteht sich zudem als Interessenvertretung und als Förderer der türkischen Kultur, die unter anderem in Theater-, Tanz- und Musikgruppen gepflegt wird. Interessierte können sich ganz zwanglos einen Eindruck von den vielfältigen Aktivitäten machen: Einmal im Monat gestalten die Mitglieder einen Brunch, bei dem auch Nicht-Mitglieder in den Vereinsräumen in der Reutlinger Ringelbachstraße 195/M willkommen sind. (GEA)

www.tkiv-rt.de