REUTLINGEN. Die Debatte um die Höhe des Besuchsgeldes in den Reutlinger Kindertageseinrichtungen geht weiter. Die WiR-Fraktion hat einen Antrag gestellt, die Gebühren zu senken. Um dem Nachdruck zu verleihen, hat der WiR-Verein außerdem eine Online-Petition initiiert, die von mehr als 1.800 Personen unterzeichnet worden ist - und die vom Vorstandsvorsitzenden Rainer Riedinger in der Gemeinderatssitzung Oberbürgermeister Thomas Keck übergeben wurde.
"Kinder stehen nicht für sich alleine.
Sie sind eingebettet in ihre Familie."
Die Kernforderung des Antrags: »Die WiR-Fraktion möchte eine einfache und transparente und damit eine faire und für alle geltende Gebührenordnung.«Dabei sollten die Grundsätze beachtet werden, dass alle Kinder gleich sind und dass die Gebühren gemäß der Betreuungsstunden berechnet werden, so weiter im Antrag. Der Höchstsatz sollte nach Vorstellung der Fraktion die Höhe des Kindergeldes (aktuell 255 Euro) nicht übersteigen und alle Eltern sollten gleich viel zahlen, Härtefälle ausgenommen. Gerade der Punkt der einheitlichen Gebühr sorgte für Diskussionen im Gemeinderat. Dies hätte zwar zur Folge, dass die oberen Einkommensstufe entlastet würden. Allerdings müssten diejenigen, die knapp über den Transferleistungen liegen (etwa ab einem Jahresnettoeinkommen von mehr als 30.000 Euro), dafür mehr bezahlen.
"Das bestehende System ist
wohl ausgewogen"
Etwas, das sozial alles andere als gerecht wäre, denn die Geringverdiener würden dadurch prozentual enorm mehr belastet. »Das bestehende System ist wohl ausgewogen«, sagte Silke Bayer (SPD) in der Debatte im Gemeinderat, »in jeder Stufe zahlt man gleich viel Prozent vom bereinigten Brutto-Einkommen«. Auch Cathy Hammer (Grüne) verteidigte das existierende System im Grundsatz: »Die bestehende Abstufung ist gut, wichtig und solidarisch.« Denn auch wenn alle Kinder gleich seien, wachsen sie nicht in gleichen Familien auf. Einen Einheitstarif, wie von WiR vorgeschlagen, hielten die meisten Gemeinderäte, wie Anna Mylona (CDU) für »falsch«, oder wie Cathy Hammer für »unsolidarisch und nicht differenziert«. Lediglich Hagen Kluck (FDP) äußerte »große Sympathie« für die Idee, dass es nur eine Kita-Gebühr gibt - hält aber den Zeitpunkt für falsch.
Bürgermeister Robert Hahn wandte sich mit einigen Argumenten an WiR-Rat Marco Wolz, der den Antrag seiner Fraktion mit Begründung verlesen hatte. Unter anderem unterstrich er das, was auch aus dem Gremium schon angeklungen war: »Mit ihrem Vorschlag werden absolut nicht alle Kinder gleich behandelt. Denn Kinder stehen nicht für sich alleine. Sie sind eingebettet in ihre Familie. Und die Wirkung des Systems, das sie vorschlagen, auf Familien, ist eben nicht bei allen dieselbe.«
"Da draußen gibt es so viele Menschen,
die unzufrieden sind"
Das System, das in Reutlingen derzeit angewendet wird, wurde 2022 von Verwaltung, Ratsmitgliedern und Elternvertretern entwickelt, mit dem Ziel es sozial gerechter zu machen. »Damals war es völlig schief«, blickt Sozialamtsleiter Joachim Haas zurück. In der alten Gebührenordnung war der Höchstbetrag bereits mit einem Nettoeinkommen von 45.000 Euro fällig, weshalb weitere Stufen eingeführt wurden. Insgesamt sollte das neue System »eine gerechtigkeitsfördernde Wirkung entfalten«, wie Haas dem Gemeinderat damals erklärte. 2023 wurde es einstimmig (bei zwei Enthaltungen) verabschiedet. Hahn bat nun den Gemeinderat darum, »dass wir die Beteiligungsprozesse, die wir zwei Jahre lang mit vielen Eltern gemacht haben für das aktuelle System, nicht einfach vom Tisch wischen«. Außerdem warnte er vor einer erneuten Systemumstellung - »wir sind ja mit der ersten noch nicht ganz durch«.
Marco Wolz verwies auf die vielen Unterschriften, die innerhalb kürzester Zeit bei der Petition zusammengekommen seien. »Da draußen gibt es so viele Menschen, die unzufrieden sind, aber wir wollen das bestehende System beibehalten? Das verstehe ich nicht.« Aber: Sind die Eltern wirklich unzufrieden mit dem System generell? Sowohl Bürgermeister Hahn als auch Sozialamtsleiter Haas zweifeln das an. Zwar habe es unter der Petition viele Kommentare gegeben, aber das System, das die WiR vorschlage, »hat kaum Erwähnung gefunden – und das ist auch richtig so«, betont Hahn. »Wir müssen uns überlegen, ob wir ein System sprengen, das gut ist – nur eben zu hoch«.
"Es ist überdenkenswert,
ob wir nicht insgesamt absenken müssen"
Eben in der Höhe der Gebühren sieht auch Haas die Gründe der Proteste. »Es ist überdenkenswert, ob wir nicht insgesamt absenken müssen«, so seine Überlegung. Reutlingen liegt beim Besuchsgeld bundesweit vorne, was nicht gerade familienfreundlich ist und auf lange Sicht auch Folgen für den Wirtschaftsstandort haben könnte - so sehen es auch viele Stadträte, wissend, dass sie handeln müssen. Ein erster Schritt war, dass die Gebührenerhöhungen für die Jahre 2024 und 2025 ausgesetzt wurden - auf einen entsprechenden Antrag, auch in den beiden Folgejahren nicht zu erhöhen, wartet Haas derzeit noch. Außerdem werden die Gebühren ab Oktober abgesenkt - ab der Einkommensstufe vier sorgt dies für eine Entlastung von bis zu 23 Prozent. Allerdings sind die Gebühren weiterhin im Vergleich mit den Nachbarkommunen sehr hoch. Daher hat die Verwaltung auf Basis der sozialen Staffelung berechnet, wie sich eine weitere Absenkung der Gebühren auswirken würde - und zwar für die Eltern, aber auch für den städtischen Haushalt.
Die meisten Fraktionen sind sich einig, dass das Besuchsgeld günstiger werden muss: Grüne, FWV, SPD, Die Linke/Partei und FDP haben einen interfraktionellen Antrag gestellt, die CDU einen eigenen. Sie werden in den nächsten Sitzungen des Gemeinderats beraten. Und dann liegt es an den Fraktionen, sich zu einigen, ob und wie viel man die Familien in Reutlingen entlasten will - und wie dies finanziert werden kann. Der Antrag der WiR-Fraktion ist auf jeden Fall abgelehnt worden: die drei WiR-Räte waren dafür, sechs Ratsmitglieder (darunter alle von der AfD) haben sich enthalten, alle anderen waren dagegen. (GEA)
Das Besuchsgeld und seine (mögliche) Entwicklung
Um die Höhe des Besuchsgeldes und seine mögliche Entwicklung aufzuzeigen, kann man zwei Beispiele aufgreifen. Einmal mit einer Familie aus der Stufe 5, die ein Jahresnettoeinkommen von 35.000 Euro zur Verfügung hat. Dann eine Familie, die mit mehr als 70.000 Euro Jahresnettoeinkommen in der höchsten Stufe landet. Die angenommene Betreuungszeit für ein Kind liegt bei 40 Wochenstunden.
Bisher müssen Eltern in der höchsten Einkommensstufe 614 Euro bezahlen. Ab Oktober sinkt der Betrag auf 501 Euro. Würde der Gemeinderat eine weitere Absenkung von zwei Prozent beschließen, wären es 491 Euro pro Monat, bei zehn Prozent 451 Euro.
Geringverdiener in Stufe 5 zahlen bisher 250 Euro pro Monat, ab Oktober 228 Euro. Bei minus 2 Prozent wären es 223 Euro, bei minus zehn Prozent 205 Euro. Sie müssten nach dem WiR-Antrag also mehr zahlen als bisher, während die oberen Einkommen deutlich weniger zahlen müssten.
Folgen für den städtischen Haushalt: Die Stadt rechnet ab Oktober mit 6,25 Millionen Euro Einnahmen. Bei einer Absenkung um 2 Prozent wären es 125.000 Euro weniger, bei 10 Prozent 630.000 Euro. (awe)