REUTLINGEN-OFERDINGEN. Erika und Maria trugen denselben Mädchennamen: Kugel. Sie stammen aus demselben Ort: Oferdingen bei Reutlingen. Haben sie gemeinsame Wurzeln? »Das würde mich doch sehr interessieren«, sagt Erika Walter. Nach einem Bericht im Reutlinger Generalanzeiger (GEA) über die NS-Widerstandsgruppe Schlotterbeck, als deren Angehörige Maria Schlotterbeck 1944 von NS-Schergen ermordet wurde, ließ sie diese Frage nicht mehr los. Sie begab sich auf Spurensuche ins Stadtarchiv, die nun zu einer erfreulichen Erkenntnis führte.
»Wir waren die einzigen Kugels in Oferdingen.« Das war Erika von ihrer Familie stets vermittelt worden. Deshalb schien der 86-Jährigen ein Verwandtschaftsverhältnis zu Maria naheliegend. Zumal Oferdingen ein kleiner Ort ist: Die heute 2.479 Einwohner zählende Reutlinger Bezirksgemeinde, die zur Zeit von Erikas Geburt noch zum Kreis Tübingen gehörte, hatte damals weniger als 500 Einwohner.
Die beiden Frauen trennen 53 Jahre - und eine Schreckensherrschaft
Anna Maria Kugel wurde dort 1885 geboren, Erika Kugel 1938 - so trennen die beiden Frauen 53 Jahre. Als Erika auf die Welt kam, wohnte die Namensvetterin mit dem Rufnamen Maria längst nicht mehr im Ort. Sie stand mitten im Leben - auch wenn ihr nur noch sechs Jahre bleiben sollten.

Jahre voller Sorgen, denn nachdem sie 30 Jahre zuvor in Reutlingen den Bempflinger Metallarbeiter und Gewerkschafter Gotthilf Schlotterbeck geheiratet hatte, geriet die Familie zwischen der Absetzung des württembergischen Königs durch Revolutionäre 1918 und der Diktatur der Nationalsozialisten ab 1933 zunehmend unter Druck. Der arbeiterbewegte Gotthilf stand auf einer »schwarzen Liste«. Nachdem er in Reutlingen keine Arbeit mehr fand, waren er, Maria und ihre Kinder 1911 nach Esslingen und um 1920 in die Genossenschaftssiedlung Luginsland in Untertürkheim umgezogen. 20 Jahre lang musste die »liebevoll sorgende Mutter«, wie sie Historiker Günter Randecker in einem Buch nennt, in Fabriken das Geld für die Familie verdienen.

Auch wenn sie selbst wohl nicht politisch aktiv war, ging sie als Teil der »Widerstandsgruppe Schlotterbeck« in die Geschichte ein. Denn am 30. November 1944 sind Gotthilf und Maria Schlotterbeck mit ihrer Tochter Gertrud Lutz sowie sieben lose miteinander verbundenen Bekannten im KZ Dachau erschossen worden. Der selbsternannte spätere Reutlinger Kunstkenner Alfred Hagenlocher hatte die Todes-Dokumente für die Standesämter unterzeichnet.
Ein paar Ausgangsdaten
Erika hat ebenfalls geheiratet, ihre Ehe mit Erich Walter blieb aber kinderlos. Als Einzelkind, wie so viele Menschen, die kurz vor dem oder im Zweiten Weltkrieg zur Welt kamen, hat sie heute kaum noch Verwandte. Durch den GEA-Bericht keimte die Hoffnung, dass sie mit Marias Nachfahren noch lebende Angehörige finden könnte. So wandte sie sich an die Redaktion - und ans Stadtarchiv im Reutlinger Rathaus.
Was Erika schon wusste: Ihr 1910 geborener Vater hatte keine Geschwister. Aber ein Uropa hatte eine Schwester, erinnert sich Erika vage. Die sei aus dem Dorf weggezogen, habe sich dort nicht wohlgefühlt. Über sie wurde immer nur als »die Tante aus Esslingen« gesprochen. Könnte das Maria Schlotterbeck sein?
Im Archiv machte sich daraufhin eine Angestellte an die Arbeit. Schon knapp eine Woche nach Recherchebeginn erhielt Erika Walter von ihr die Rückmeldung: »Es gibt tatsächlich einen gemeinsamen Vorfahren!« Maria Schlotterbecks Urgroßvater sei Erika Walters Urururopa. »Ganz unspektakulär kann man sagen, Sie sind verwandt«, bekräftigt Archivar Philipp Klais, als er der Oferdingerin im Lesesaal des Stadtarchivs die entsprechenden Dokumente vorlegt.
Uneheliche Kinder waren ein Stigma
Die führen zum Urahn, der zehn Kinder hatte, darunter ein Mädchen, das unehelich drei Kinder gebar. »So etwas ist früher schlimm gewesen«, murmelt Erika Walter nachdenklich. »Ein Stigma«, stimmt der Archivar zu. Es könnte erklären, weshalb von diesem Teil der Familie in ihrem Elternhaus nicht oder kaum gesprochen wurde.

Im Familienregister, das die Eheschließung von Gotthilf Schlotterbeck und Anna Maria Kugel am 18. April 1908 in Reutlingen dokumentiert, wird als »Mutter der Hausmutter« eine Maria Margarete Kugel aus Oferdingen genannt. In der Rubrik »Vater der Hausmutter« ist ein Strich, Anna Marias Vater war unbekannt. Rückblickend ist das ein Glück: Denn dass sie als ledige Mutter ihren Mädchennamen an die Kinder weitergab, hat Erikas Eintauchen in die Ahnenforschung erst möglich gemacht. Hätte Maria nach ihrem Vater geheißen, wäre die Oferdingerin nie auf die Idee gekommen, gemeinsame Wurzeln zu suchen.
Dass Maria Schlotterbeck ihre Großtante zweiten oder dritten Grades ist, entnimmt Archivar Klais verschiedenen in akkurater deutscher Kurrentschrift ausgefüllten Tabellen auf vergilbtem Papier. Von denen hat er für die Besucherin schon Kopien anfertigen lassen. Die freut sich über das Ergebnis der Nachforschungen: »Weil es immer hieß, es gibt da niemanden mehr. Und nie jemand was erzählt hat.«
Wie es mit Schlotterbecks weiterging
Das Schlotterbecksche Register verzeichnet auch die Geburten von Maria und Gotthilfs ältesten Kindern: 1909 wurde in der Reutlinger Fizionstraße 47, wo sie zur Miete wohnten, Albert Friedrich, genannt Frieder, geboren. Und am 17. September 1910 Emilie Gertrud. Dass die 1938 in Horb den Hirsauer Walter Lutz geheiratet, 1942 die gemeinsame Tochter Wilfriede zur Welt gebracht und Briefe mit »Trudl« unterzeichnet hat, ist dort nicht zu erfahren. Auch der dritte Sohn, Hermann, der 1919 in Untertürkheim zur Welt kam, findet sich nicht im Reutlinger Archiv. Nachdem Familie am 21. April 1911 nach Esslingen umgezogen war, wurden ihre Daten offenbar nicht mehr aktualisiert, stellt Philipp Klais fest. Normalerweise werde auch nach einem Wegzug zumindest nachgetragen, wann jemand verstorben ist.
Erinnerungen an Familie Schlotterbeck
Nur Maria Schlotterbecks ältestem Sohn Friedrich war 1944 die Flucht in die Schweiz gelungen. Nachdem er Wilfriede bei sich aufgenommen hatte, siedelte er nach dem Krieg in die DDR über und lebte dort bis zu seinem Tod 1979 mit seiner Frau. Heute erinnert an die Familie ein Ehrengrab auf dem Friedhof von Untertürkheim. Die IG Metall hob zum 60. Todestag hervor, dass die Gruppe um Frieder Schlotterbeck »ein Teil der allzu kleinen Minderheit« war, »die Integrität sowie den politischen und moralischen Anspruch der Arbeiterbewegung über den Faschismus hinaus aufrechterhielt«. Sie wollten den »nationalsozialistischen Wahnsinn« beenden und wurden getötet, »weil sie den einfachsten Idealen der Menschlichkeit treu blieben.«
Frieders Einschätzung der »Sippenhaft« bestätigte später der ehemalige Gestapobeamte Ernst Zerrer: Die als »Widerstandsgruppe« Hingerichteten hätten sich in keiner Weise aktiv betätigt, der Vorwurf des Hochverrats ließ sich nicht nachweisen.
Das als »Erinnerungsort Hotel Siber« des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg geführte einstige NS-Hauptquartier in Stuttgart zeigt bis 23. Juli die Sonderausstellung »Gestapo vor Gericht - Die Verfolgung von NS-Verbreche(r)n«, Dienstag bis Sonntag/Feiertage 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 10 bis 21 Uhr, Eintritt 2 Euro, ermäßigt 1 Euro.
https://www.hdgbw.de/hotel-silber/
Öffnungszeiten Lesesaal des Stadtarchivs Reutlingen, Marktplatz 22: Dienstag/Mittwoch 9 bis 12 sowie 13 bis 16 Uhr, Donnerstag bis 18 Uhr. Voranmeldung erwünscht. (dia)
Da Marias Mann und Kinder in der Arbeiterbewegung aktiv waren - und Friedrich zudem Funktionär der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) war, damals drittstärkste Kraft im Land, - wurden sie zur NS-Zeit als politisch Andersdenkende von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) bespitzelt, verfolgt, immer wieder inhaftiert und schwer misshandelt. Wenige Monate nachdem sie mit 59, ihr Mann mit 64 und Tochter Gertrud mit 34 Jahren hingerichtet worden waren, wurde auch der 26-jährige Sohn Hermann - ebenfalls wegen »Vorbereitung zum Hochverrat«, ebenfalls ohne Gerichtsverhandlung - nur zwei Tage, bevor die alliierten Franzosen einmarschierten und den Nazi-Terror beendeten, auf einem der berüchtigten Todesmärsche in einem Wald bei Riedlingen von SS-Männern erschossen und verscharrt. Alleine Frieder und die damals erst zweijährige Wilfriede Sonnhilde haben den Furor der Nazis überlebt.
Marias Tochter schreibt in Briefen von der Oferdinger Verwandtschaft
Erika war damals gerade sechs geworden. Michael Horlacher, dem Marias Enkelin den Nachlass übergab, erzählte zum 80. Jahrestag der Ermordung der »Widerstandsgruppe-Schlotterbeck« im Reutlinger franz.K die Geschichte der aus Reutlingen stammenden Familie. Er hat zusammen mit Randecker das Buch »Gertrud Lutz, geborene Schlotterbeck - Briefe, Dokumente, Bilder« herausgegeben. Trudl erwähnt in ihren Briefen, die sie zwischen 1933 und 1944 aus Gefängnissen und KZs an Maria schrieb, immer wieder die »Verwandtschaft aus Oferdingen«. Im Juni 1936 fragt sie ihre aufopfernde, erschöpfte Mutter: »Na, was kommt denn in unsere Oferdinger gefahren? Bis jetzt habe ich noch nicht geschrieben, denn ich bin immer unsicher, ob es ihnen angenehm ist.« Die Zurückhaltung, aber auch der Wunsch nach Kontakt, scheint also beidseitig gewesen zu sein.
Marias Enkelin lebt heute in Berlin, ein Urenkel im Haus der Familie Schlotterbeck in Stuttgart. Mit ihnen hat Erika tatsächlich noch lebende Verwandte, wenn auch entfernte. Bislang besteht kein Kontakt. Doch die Stunde im Lesesaal des Stadtarchivs bringt in der 86-Jährigen auch allerlei andere Kindheitserinnerungen wieder hoch. (GEA)