REUTLINGEN. Früher war der markante Backsteinbau an der Schieferstraße Teil der 1877 gegründeten Papierhülsen- und Spulenfabrik Emil Adolff. Nach einem Intermezzo durch die Firma Bosch zog 1997 Möbel Rieger mit seinem SB-Abholmarkt ein. Eine Etage Lager, eine Etage Verkauf, schlicht und zweckdienlich. Seit einem halben Jahr ist Rieger raus. Die Gebäudefassade ist die gleiche geblieben, doch das Innenleben hat sich radikal geändert. Hallenartige Räume mit ganz eigenem Charme warten auf die neuen Nutzer. Im unteren Geschoss wird es Handel sein, darüber Sport. Im Keller und unterm Dach ist (noch) alles unverändert. Neue Welt trifft alte Welt: Ein Gang durchs geschichtsträchtige Gebäude.
Das präsentiert sich im Erdgeschoss völlig losgelöst vom Ballast der vergangenen Jahre. Kein Tresen mehr, keine Hochregale, keine trennenden Leichtbauwände. Alles weg, draußen stehen noch die vollen Container. Und jetzt? Eine riesige Fläche, auf der sich Stützpfeiler an Stützpfeiler reiht. Licht dringt durch die deckenhohen alten Sprossenfenster in den fast 2 000 Quadratmeter großen Raum. Mit der Demontage ist das Gröbste erledigt. Aktuell sind die Handwerker dabei, die Elektrik zurückzubauen und zu erneuern. Raumaufteilung, Energie, Brandschutz – das, sagt Stefan Ulmer, Geschäftsführer der Baubetreuungs- und Verwaltungsgesellschaft HGS, der das gesamte Emil-Adolff-Areal gehört, ist Sache des Investors. »Der Innenausbau«, so Ulmer, »obliegt den Mietern.«
Auf der rechten Gebäudehälfte ist das der Tierfachmarkt Kölle-Zoo, auf der linken das Fahrradhandelsunternehmen Multicycle mit einem E-Bike-Shop. Eine kleinere Fläche ist noch frei.
Angedacht ist sie für den Gebrauchtwarenmarkt DaCapo als Ersatz für seine Räumlichkeiten im Längstrakt an der Emil-Adolff-Straße 14, der abgerissen werden soll. Der Mietvertrag läuft bis 31. Dezember 2022. Zu groß, zu teuer, sagt der neue DaCapo-Geschäftsführer Alexander Koch zum Alternativ-Standort. »Wir sind noch im Gespräch mit der HGS, schauen uns aber auch nach anderen Mieträumen um.«
»Es gab ständig An- und Umbauten«
Im Erdgeschoss arbeiten die Handwerker noch an den Trockenbauwänden, die die beiden Verkaufsflächen trennen. Dazwischen zieht sich ein Korridor durchs Gebäude. Er wird bis ins neu entstehende Areal mit E-Center und Lidl auf dem Parkplatz des Ex-Bauhauses führen. Wo künftig Kunden flanieren, ratterten früher Zugwaggons: Ein vom Güterbahnhof kommendes Industriegleis ging mitten durchs Gebäude. Das, auch wenn es von außen so aussehen mag, nicht denkmalgeschützt ist. »Es gab ständig An- und Umbauten«, nennt Ulmer den Grund.
Oben entsteht die schöne neue Einkaufswelt in über vier Meter hohen, lichten Räumen. Mit dem HGS-Geschäftsführer geht es eine Etage tiefer. Hinter einem Gang mit durchbrochenen Mauern öffnet sich das gigantische Kellergeschoss, das sich bis unter den früheren Bauhaus-Trakt erstreckt. Spinnweben hängen von der niedrigen Decke. Ein paar Uralt-Pumpen sind in der Dunkelheit zu erkennen. Ansonsten: Leere. Was aus dem Keller wird, hängt vom Realisierungswettbewerb für das Ex-Bauhausgelände ab, sagt Ulmer. Vernichten – also zuschütten – oder verwerten heißen die Alternativen. Der Investor ist für Erhalt, denn der Keller mit seinen massiven Stützpfeilern wirke wie eine Bodenplatte.
Robust ist das ganze Gebäude, schließlich musste es früher schwere Maschinen aushalten. Standhaft genug auch für die neue Nutzung im ersten Obergeschoss. Durch das Treppenhaus geht es hinauf. Noch höhere, noch größere Räume. Im vorderen Teil wird die Fitnesskette Xtrafit mit einer Filiale samt Wellness-Bereich auf einer 3 300 Quadratmeter großen Fläche einziehen. Einen Tick spektakulärer der hintere Teil der Etage. 1 900 Quadratmeter, sechs Meter lichtdurchflutete Raumhöhe. Die braucht es, denn hier wird eine Boulderhalle eröffnen. Voluminöse Alu-Lüftungsrohre hängen an der Decke. Ohne Funktion, aber sie bleiben. »Aus optischen Gründen«, sagt Stefan Ulmer. Auch hier die typischen Sprossenfenster. Und ein neuer Wanddurchbruch: Hier wird es zur Dachterrasse gehen.
Auf den beiden Stockwerken drüber könnten Alt-Mieter aus dem Längstrakt heimisch werden: im zweiten Obergeschoss die Fechtgesellschaft, unterm Dach Dominik »Dodokay« Kuhn. Die Gespräche laufen noch, auch wegen der Statik sind Fragen offen. Denn ins Dachgeschoss geht zwar ein Lastenaufzug, aber bisher nur eine abenteuerliche Leitertreppe. Jetzt muss geprüft werden, ob ein Durchbruch machbar ist.
Kassettenfenster, Beton, offene Räume: Industriecharme auf der einen Seite des Gebäudes, auf der anderen unterm Dach rustikale Vergangenheit. Verwinkelt ist es hier, verschachtelt. Holzfachwerk, gut erhalten. Ein riesiger Kessel, der als Sprinkleranlage genutzt wurde. Heizungskessel, die für Wärme in beiden Rieger-Gebäuden sorgten und die jetzt nicht mehr gebraucht werden, weil die HGS auf Fernwärme umstellt. Im letzten Eck ein Raum, in dem Scheiben und angestaubte Arbeitstische stehen – früher war hier die Glaserei. Und wo immer eine Fensterfront ist, eröffnet sich der Blick über die Scheddächer bis zu den Silhouetten der Alb.
»Im tolerierbaren Bereich«
Bis zum Spätsommer oder Herbst will die HGS die Räume im Rohbau an die Mieter übergeben. Durch die Warenknappheit bei den Baustoffen und die Auslastung der Handwerker habe sich der Zeitplan verschoben. »Aber im tolerierbaren Bereich«, sagt Stefan Ulmer. Acht bis zwölf Wochen, schätzt er, brauchen die Mieter für ihre Umbauten. Die Kosten für die HGS werden bei 2,5 Millionen Euro liegen. Nicht eingerechnet sind zwei weitere Posten, die zusammen noch mal einen siebenstelligen Betrag ausmachen: die Fernwärme, mit der auch Möbel-Rieger versorgt wird, und die Fenster. Sie werden komplett erneuert. Aus energetischen Gründen mit Dreifachverglasung, aus optischen im alten Industriestil mit Kassettenfenstern.
An der Fassade der Alten Papierfabrik mit der neuen Adresse Schieferstraße 8 wird sich also wenig ändern. Ob das auch für ihre rot-weiße Fortsetzung vor dem früheren Bauhaus gilt, ist dagegen offen. »Wir versuchen es, aber garantieren können wir es nicht«, sagt der HGS-Geschäftsführer. Ob die Ziegelfassade erhalten bleibt, hänge vom Ergebnis des Ideenwettbewerbs fürs Edeka/Lidl-Projekt ab, von der Statik und nicht zuletzt von der Wirtschaftlichkeit. (GEA)
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Mehr Fotos vom neuen und alten Innenleben der früheren Papierfabrik gibt es beim GEA im Internet. www.gea.de/bilder