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Neue Ausbildung mit Lebenserfahrung: Menschen aus der Region berichten

Auch im fortgeschrittenen Lebensabschnitt kann man noch eine Lehre starten und sich neu orientieren.

Olga Sedih-Rentschler hat Zahntechnikerin gelernt.
Olga Sedih-Rentschler hat Zahntechnikerin gelernt. Foto: Jutta Nitschke
Olga Sedih-Rentschler hat Zahntechnikerin gelernt.
Foto: Jutta Nitschke

REUTLINGEN. Das Abschlusszeugnis druckfrisch in Händen, jung, neugierig und manchmal auch noch ein bisschen grün hinter den Ohren. Ungefähr so stellen sich die meisten von uns einen Auszubildenden vor. Doch Ausnahmen bestätigen die Regel. 35 Jahre alt und mitten in der Ausbildung – das gibt’s tatsächlich. Bislang eher selten, doch die Zahl der älteren Azubis nimmt jährlich zu. Diese Personen können mit Lebenserfahrung, Menschenkenntnis oder Fachwissen punkten. Sie sind meist enorm ehrgeizig, diszipliniert und zuverlässig. Und in Zeiten von Fachkräftemangel und geburtenschwachen Jahrgängen wird der Wettkampf um die Auszubildenden in Zukunft noch größer werden. Laut dem Statistischen Landesamt vermindert sich die Zahl der Schulabgänger in Baden-Württemberg derzeit von Jahr zu Jahr um rund zwei Prozent. Aufgrund ihrer Reife und Fähigkeiten stellen ältere Azubis häufig eine Bereicherung für das gesamte Team dar und wirken oft als positiver Gegenpol, insbesondere gegenüber jüngeren, unerfahreneren Kollegen. Drei Menschen aus der Region erzählen, wie es ist, im mittleren Alter als Azubi einen Neuanfang zu wagen.

Philipp Züfle hat den Talar eines Pastors mit der Kluft eines Zimmermanns getauscht.
Philipp Züfle hat den Talar eines Pastors mit der Kluft eines Zimmermanns getauscht. Foto: Jutta Nitschke
Philipp Züfle hat den Talar eines Pastors mit der Kluft eines Zimmermanns getauscht.
Foto: Jutta Nitschke

Philipp Züfle hat den Talar eines Pastors mit der Kluft eines Zimmermanns getauscht. Ein ungewöhnlicher Weg, doch der 36-Jährige bereut diesen Schritt nicht. Geboren und aufgewachsen ist Philipp Züfle in Pforzheim. Nach dem Abitur studierte er Theologie in Tübingen und Reutlingen und arbeitete anschließend acht Jahre als evangelisch-methodistischer Pastor. »Es war eine schöne Zeit. Mein Job war erfüllend, aber auch herausfordernd«, erzählt der verheiratete Mann. Doch trotzdem reifte in ihm der Wunsch, seinem Leben nochmals eine Wende zu geben. Denn schon als Kind verbrachte er viel Zeit in der Natur und liebte handwerkliche Arbeiten – vor allem mit Holz. Er besprach sich mit seiner Frau, überlegte, rechnete. Denn ihm war klar, dass bei einem Wechsel erst einmal finanzielle Einbußen auf ihn zukommen würden.

»Früher wäre dies bestimmt so nicht möglich gewesen«

»Es ist nicht leicht, sich für solch einen Schritt zu entscheiden. Doch ich hatte einfach große Lust, den Beruf des Zimmerers zu lernen. Deshalb bin ich dankbar für dieses Privileg unserer Zeit, denn früher wäre dies bestimmt so nicht möglich gewesen«, berichtet Züfle. Vor gut einem Jahr machte er sich deshalb online auf die Suche nach Ausbildungsbetrieben. Und wurde recht schnell fündig. Die Firma »Ihre Zimmerei« mit Sitz in Metzingen sagte ihm auf Anhieb zu. Er bewarb sich und hoffte auf eine positive Reaktion. Er durfte sich vorstellen und wurde gleich für eine Woche als Praktikant verpflichtet.

»Einen Auszubildenden mit 36 Jahren hatten wir noch nie. Aber darauf kommt es auch nicht an. Der Charakter und die Sozialkompetenz eines Menschen sind viel wichtiger. Und bei Philipp passt alles perfekt, er ist ein großer Gewinn für unser Team«, erläutert Joscha Hohnberg, einer der beiden Firmen-Geschäftsführer. Und wie geht der Azubi mit dem Rollenwechsel um – zuerst als Pastor in leitender Funktion und nun als Azubi in der Rangordnung doch eher am unteren Ende? »Es ist ein ganz anderer Blickwinkel. Doch ich sehe es als Bereicherung für mein Leben. Ich hatte den Mut, etwas Neues zu beginnen. Es war eine lang gewachsene Entscheidung. Doch es hat sich gelohnt. Ich wurde sehr positiv aufgenommen und ich bin dankbar für jeden Tag, den ich hier arbeiten darf«, sagt der angehende Zimmerer.

Olga Sedih-Rentschler wurde zur Klassensprecherin gewählt – und sie ist stolz darauf. Denn mit 42 Jahren ist sie mit Abstand die Älteste unter ihren Mitschülern. »Wenn irgendetwas ist, werde meist ich gefragt. Ich helfe einfach gerne und vielleicht habe ich durch meine Lebenserfahrung für die jungen Leute eine gewisse Vorbildfunktion«, erzählt die dreifache Mutter, die derzeit eine Ausbildung zur Zahntechnikerin absolviert.

»Vielleicht habe ich für die jungen Leute eine gewisse Vorbildfunktion«

Olga Sedih-Rentschler stammt aus Moldawien und kam vor 20 Jahren nach Deutschland. Im Gepäck hatte sie gleich zwei Studienabschlüsse, in Architektur sowie in Marketing und Management. Zudem noch das Abschluss-Zertifikat einer Kunstschule. Sie lebte sich gut in ihrer neuen Heimat ein und belegte mehrere Sprachkurse. Doch dann die Ernüchterung: Alle ihre Abschlüsse wurden in Deutschland nicht anerkannt. Und nun? Die Frage erübrigte sich jedoch schnell, denn Sedih-Rentschler wurde schwanger. Die nächsten Jahre widmete sie sich mit großer Hingabe ihren Kindern, doch der Gedanke irgendwann wieder zu arbeiten, beschäftigte sie immer öfter.

Stefanie Straube ist jetzt ausgebildete Hörakustikerin.  FOTOS: NITSCHKE
Stefanie Straube ist jetzt ausgebildete Hörakustikerin. FOTOS: NITSCHKE
Stefanie Straube ist jetzt ausgebildete Hörakustikerin. FOTOS: NITSCHKE

Durch Zufall kam sie vor einiger Zeit mit einer befreundeten Mutter ins Gespräch, die mit einem Zahntechniker verwandt ist. Olga Sedih-Rentschler war fasziniert. Diese Berufsgruppe stellt in Handarbeit festsitzenden Zahnersatz wie Kronen oder Prothesen her und fertigt zum Beispiel für Brücken anhand von Abformungen Modelle aus Kunststoff. Genau mein Ding, dachte sich die Frau aus Kirchentellinsfurt und begann im Internet zu recherchieren. Und ihre Suche war erfolgreich. Sie schrieb zwei Bewerbungen und erhielt kurz darauf einen Anruf der Firma »Dental-Technik Haselberger« aus Reutlingen. Den Eignungstest bestand sie ohne Probleme und hatte dadurch den Ausbildungsvertrag in der Tasche. »Von Anfang an wurde ich im Kollegenkreis sehr gut aufgenommen und ich erhalte hier viel Unterstützung. Dies ist für mich insofern sehr wertvoll, da ich ja Beruf und Familie unter einen Hut bringen muss«, berichtet Sedih-Rentschler. Manchmal sei es schon stressig, vor allem wenn in der Berufsschule Klausuren anstehen. Dann sitze sie gemeinsam mit ihren Kindern am Küchentisch, mache ihre Hausaufgaben und bereite sich für die Klassenarbeiten vor. Ehrgeiz spornt Olga Sedih-Rentschler an. »Dieser Beruf ist so spannend und ich lerne sehr viel. Außerdem möchte ich ein gutes Beispiel für meine Kinder sein. Sie sollen sehen, dass es sich lohnt zu lernen und dass es nie zu spät ist, etwas zu ändern oder etwas Neues anzufangen«, erklärt sie.

Und was meint ihr Chef? »Olga ist extrem fleißig und sehr motiviert. Wir sind alle wirklich froh, dass sie zu unserem Team gehört«, sagt Mario Dreher, einer von zwei Geschäftsführern der Firma.

Stefanie Straube strahlt. Anfang Februar wurde der 52-Jährigen der Gesellenbrief überreicht – sie ist jetzt ausgebildete Hörakustikerin. »Ich bin so glücklich, dass ich das geschafft habe«, sagt die gebürtige Reutlingerin. Doch der Weg bis zu diesem Erfolg war alles andere als einfach und hat die Frau viel Kraft gekostet.

Nach Haupt- und Gewerbeschule begann Stefanie Straube eine Ausbildung als Bauschreinerin, die sie jedoch aus persönlichen Gründen abbrechen musste. Mit diversen Jobs hielt sie sich über Wasser, bis sie nach einiger Zeit eine Lehre als Köchin begann, die sie nach drei Jahren erfolgreich abschloss. Fast 15 Jahre wirbelte sie am Herd, sogar bis nach Neuseeland hat sie ihr Beruf gebracht. »Es hat mir wirklich großen Spaß gemacht und ich war mit Leidenschaft dabei«, erklärt Straube. Doch nach und nach machten gesundheitliche Probleme der Köchin das Leben schwer. Beide Knie und die Bandscheibe waren lädiert – und es wurde immer schlimmer. 2012 musste sie schweren Herzens ihren Beruf aufgeben, es ging einfach nicht mehr. Doch Susanne Straube steckte den Kopf nicht in den Sand, stellte mehrere Anträge auf Umschulung, für die sie jedoch keine Zusage erhielt. Während dieser Zeit wurde dann auch noch ihre Mutter krank und Straube übernahm mehrere Jahre die Vollzeitpflege bis zu deren Tod.

»Es ist nie zu spät, um eine Ausbildung zu beginnen«

Durch Zufall entdeckte die Frau aus Reutlingen in der Innenstadt ein Plakat mit der Aufschrift »Hörakustiker gesucht«. Und machte Nägel mit Köpfen. Sie stellte nochmals einen Antrag auf Umschulung, der dieses Mal auch bewilligt wurde, bewarb sich bei »KIND Hörgeräte« und wurde noch am selben Tag zum Probearbeiten eingeladen. Straube gefiel es, und sie unterschrieb einen Ausbildungsvertrag. Ihr Alter wurde übrigens nie thematisiert.

Zwei Jahre lernte sie den praktischen Teil in den Unternehmens-Filialen in Reutlingen und Tübingen, für die Berufsschule musste sie immer wochenweise nach Lübeck. »Ich konnte mir das nur leisten, da aufgrund meiner Umschulung die Deutsche Rentenversicherung sämtliche Kosten übernommen hat«, erzählt die Hörakustikerin. In ihrer Klasse war sie übrigens nicht die Älteste, ein Mitschüler war sogar 56 Jahre alt. Nur an eine 23-jährige Lehrerin denkt sie nicht gerne zurück. »Die hat uns immer wie Kinder behandelt, das war richtig unangenehm«, berichtet Straube.

Mit 52 Jahren ist die frischgebackene Gesellin an ihrem Wunschziel angekommen. Denn ihrer Meinung nach ist ihr Job krisensicher. Immer öfter würden schon junge Menschen schlecht hören und die Zahl der älteren Menschen nehme auch zu. Sie sagt: »Es hat sich gelohnt, denn ich fühle mich wirklich gebraucht. Das ist für mich ein Stück weit Glück. Und ich möchte allen sagen, dass es nie zu spät ist, um eine Ausbildung zu beginnen.« (GEA)