REUTLINGEN. Das Dröhnen einer Druckmaschine ist für die meisten Menschen nur störender Dauerlärm. Doch für Eugen Lachenmann ist es nach dem Zweiten Weltkrieg die beruhigende Gewissheit, dass am Burgplatz endlich wieder Zeitungen produziert werden. Stille im Betrieb ist für den damaligen Verleger des Reutlinger General-Anzeigers dagegen die schmerzhafte Erinnerung daran, wie die Nazis ihn, seine Journalisten und den GEA einst zum Schweigen verdonnert hatten.
Der erste Versuch erfolgt 1933. Unabhängige journalistische Arbeit ist seit der Machtergreifung Adolf Hitlers am 30. Januar kaum noch möglich. Das von Joseph Goebbels initiierte Schriftleitergesetz verpflichtet Verleger, aus Zeitungen fernzuhalten, was die »Kraft des deutschen Volkes«, seine »Wehrhaftigkeit« oder »Gemeinschaftswillen« schwächen könnte. Wer dem Regime nicht nach dem Mund redet, wird schikaniert. »Parteigewaltige« schneiden GEA-Redakteure und Fotografen von Informationen ab, schließen sie von Veranstaltungen aus. »Unsere Stellung war hinter den Fensterläden«, schreibt Eugen Lachenmann später in einer Jubiläumsausgabe.
Schock an Heiligabend
An Heiligabend erfährt er »vor dem brennenden Christbaum« mit seiner Familie schließlich aus dem Radio, dass der GEA verboten werden soll. Über Beziehungen erreicht der Verleger jedoch, dass sein Blatt nach Weihnachten wieder erscheinen darf. »Das von der Württembergischen Politischen Polizei ausgesprochene Zeitungsverbot ist auf einen Tag abgeändert worden«, informiert der GEA am 27. Dezember 1933 auf der Titelseite.
Für den kleinen Reutlinger Verlag ist das ein Etappensieg. Gleichzeitig ist dieser Vorfall ein Vorgeschmack auf das, was der freien Presse unter der NS-Diktatur blühen sollte. Bundesweit kommt es in den Folgejahren zu Hetzkampagnen gegen publizistische Gegner. Zeitungen werden verboten, Journalisten und Verleger verfolgt, verhaftet oder ins Exil gezwungen, Pressehäuser geschlossen oder in Besitz genommen und die Blätter auf einen nationalsozialistischen Kurs gebracht.
Allerdings kann das NS-Regime nicht der gesamten freien Presse mit Terror und Gewalt begegnen. Mit dem Großteil der Verleger und Journalisten der konservativen und liberalen Blätter muss es zusammenarbeiten. Auf sie sind die Nazis sowohl aus Mangel an eigenem Personal als auch zur Integration des Bürgertums in die faschistische Diktatur und zur Außendarstellung im Ausland angewiesen.
Termin bei Goebbels in Berlin
Viele Medien versuchen, ihre Unabhängigkeit durch ein gewisses Maß an Anpassung zu bewahren. Berichte über Nationalsozialisten und ihr Vorgehen lassen sich auch im GEA nicht vermeiden, ebenso wenig wie Fotos von Adolf Hitler auf der Titelseite oder der ersten SA-Hochzeit in Reutlingen. »Die Herausforderung für Eugen Lachenmann war, was er mitmacht und was nicht«, sagt sein Enkel und heutiger Verleger Valdo Lehari und ergänzt: »Hitler und Goebbels waren in erster Linie an der Schließung von wirtschaftlich erfolgreichen Verlagen interessiert. Sie haben in Berlin aber auch nicht alles genau angeschaut. Wenn man Zahlen geliefert hat, die nicht exakt stimmten, konnte man die Stilllegung noch einige Jahre hinauszögern – oder umgekehrt.«
Im Jahr 1938 wird der Reutlinger General-Anzeiger 50 Jahre alt. Zu feiern gibt es jedoch wenig. In Reutlingen erscheint mittlerweile das NS-Blatt »Reutlinger Zeitung«, der wirtschaftliche Druck auf den Verlag steigt. Mehrmals wird Eugen Lachenmann nach Berlin ins Büro von Joseph Goebbels zitiert. Bei einem Termin ist er in Begleitung seiner Tochter Elly, die von einem Wachmann äußerst unangemessen behandelt wird. Gegen den Übergriff wehrt sie sich energisch.
Ende 1939 hat der Widerstand der Lachenmanns schließlich ein Ende. Der Reutlinger General-Anzeiger darf nicht mehr erscheinen und geht in der »Reutlinger Zeitung« auf. »Damit wird einem lange gehegten Wunsch der Zeitungsleser im Kreis Reutlingen Rechnung getragen«, heißt es am 30. Dezember auf der GEA-Titelseite. Das neue Blatt werde aus dem Ideengut des Nationalsozialismus schöpfen und für das Lebensrecht des Volkes kämpfen. »Mein Großvater hat bis zu seinem Tod nicht verkraftet, dass er erst enteignet wurde und dann auch noch diesen Text abdrucken musste«, erinnert sich Valdo Lehari.
GEA-Verleger im Krieg
Dass im Pressehaus am Burgplatz die Druckmaschinen verstummen, ist den Nazis jedoch nicht genug. Der unbequeme Verleger muss weg, deshalb schicken sie ihn nach Südfrankreich zur Infanterie. Dort kämpft er mehrere Jahre. Als sich die Lage der Wehrmacht in Frankreich verschlechtert, löst sich seine Truppe selbstständig auf. Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg, schafft er es unverletzt nach Hause.
Dort hatte sich Germaine Lachenmann in Abwesenheit ihres Mannes zusammen mit dem Prokuristen des Verlags um das verbliebene Geschäft gekümmert. Das besteht zwischenzeitlich aus der Produktion von Plakaten, Visitenkarten, Speisekarten, Bildbänden und Fachzeitschriften. Die Familie muss ihr Privatvermögen einsetzen, um das Unternehmen über Wasser zu halten. Denn auch nach Kriegsende bleibt der GEA zunächst geschlossen.
Weil die Alliierten nicht wissen, ob die enteigneten Verlegerfamilien unbescholten sind, bekommen sie keine Erlaubnis, eine Zeitung zu drucken. Lizenzen gehen meist an Fachfremde, die weder Gebäude noch Druckerei besitzen. Das Badener Tagblatt erscheint am 8. August 1945 als erster Titel in der französischen Besatzungszone. Im selben Jahr darf das Schwäbische Tagblatt Tübingen eine Zeitung für die Region Neckar-Alb herausbringen.
Druckmaschine deportiert
Schikaniert, enteignet, in den Krieg geschickt – dass ihm nach dieser Leidenszeit der Neustart verweigert wird, ist für Eugen Lachenmann schon schlimm genug. Dass die Franzosen dann zu allem Überfluss auch noch wertvolle Gerätschaften, darunter das Herzstück des Unternehmens, die fast neue 32-seitige Druckmaschine, demontieren, ist für ihn ein Tiefschlag. Eine Entschädigung bekommt er nicht, kritisiert er später.
Dennoch gibt Lachenmann seinen Traum vom Wiedererscheinen des GEA nicht auf. Den Seitenkopf behält er »mit dem Gefühl, dass er mal wieder gebraucht werden würde«. Rückblickend schreibt er: Trotz Lizenzzwang wird im Verlag geschuftet, um für den Tag X gerüstet zu sein. Dieser rückt 1949 näher. Im Mai tritt in Deutschland das Grundgesetz in Kraft. Dort sind nicht nur Menschenrechte, sondern auch Meinungs- und Pressefreiheit festgeschrieben. Im September folgt daher eine Generallizenz zum Herausgeben von Zeitungen.
Danach geht es Schlag auf Schlag. Eugen Lachenmann kauft eine kleine, alte, durch ein Feuer beschädigte Druckmaschine. Bei MAN in Augsburg wird sie instandgesetzt und dann im Pressehaus montiert. Innerhalb von nur acht Tagen ist sie betriebsbereit. Sie knattert und klappert, ringt Verleger und Mitarbeitern das ein oder andere Stoßgebet ab. Aber sie funktioniert. Die Zeit der Stille am Burgplatz ist Geschichte.
Am 24. Oktober 1949, heute vor genau 75 Jahren, ist es endlich so weit: Eine Probeausgabe in kleiner Auflage wird gedruckt und verteilt. Im Innenteil wendet sich die Redaktion an ihre Leser und das Schwäbische Tagblatt Tübingen. Der Platzhirsch hatte die Wirtschaftlichkeit einer zweiten Zeitung für die Region zuvor infrage gestellt. Der GEA erwidert: »Wir haben uns zum Ziel gesetzt, der Bevölkerung von Stadt und Kreis eine in Reutlingen hergestellte eigene Zeitung zu liefern. Was die Rentabilität betrifft, so ist das unsere Angelegenheit.«
Am 1. November erscheint der GEA dann wieder im Regelbetrieb. Ein Tag zum Feiern. Vor dem Reutlinger Verlagsgebäude und den Geschäftsstellen in Pfullingen, Metzingen und Bad Urach lassen Mitarbeiter Luftballons mit Fünfmark-Gutscheinen steigen. Die Resonanz ist gigantisch. Hunderte Leser sind vor Ort. Neue und Alte. Viele davon hatten regelmäßig gefragt, wann ihre Heimatzeitung endlich wieder erscheinen dürfe.
Zwölfjähriger als Austräger
Den erfolgreichen Neubeginn verdankt die Zeitung aber nicht nur der Gunst der Leser. Auch Personal muss zurück- oder neu gewonnen werden. Wie einfach das gehen kann, zeigt das Beispiel von Christian Armbruster. Als der Zwölfjährige im Winter 1949 durch Häslach läuft, hält neben ihm ein Auto. Am Steuer Eugen Lachenmann, auf dem Beifahrersitz ein Stapel druckfrische Zeitungen. »Trag die so schnell wie möglich im Flecken aus, dann kriegst du zwei Mark«, sagt der Verleger. Der Junge nimmt das Angebot an, ist von nun an Austräger und wird später Reporter.
Nur ein Jahr später hat der Reutlinger General-Anzeiger mehr als 15.000 Abonnenten. Eine Auflage, die weit über jener der Vorkriegszeit liegt. »Die kühnsten Erwartungen, die meine Mitarbeiter und ich hegten, sind weit übertroffen worden«, schreibt Eugen Lachenmann Jahre nach dem Neustart. Am 12. September 1985 stirbt er, sein Vermächtnis besteht bis heute: Eine Zeitung am Burgplatz, die sich wie ihr einstiger Verleger nicht unterkriegen lässt und den Menschen in Reutlingen und der Region Neckar-Alb eine Stimme verleiht. (GEA)