REICHENECK. Spätestens im Herbst dieses Jahres schlägt in Reicheneck die Stunde der Wahrheit. Dann nämlich wird sich entscheiden, ob Reutlingens kleinste Bezirksgemeinde den Sprung in die Klimaneutralität vollziehen und dem Bau eines regenerativen Nahwärmenetzes auf Solar- und Holzhackschnitzelbasis grünes Licht erteilen wird: nach fast vier Jahren intensiver Diskussionen, Abwägungen, Kalkulationen und Sondierungen.
Ein Standort für die projektierte Energiezentrale wurde binnen der zurückliegenden Monate gesucht und gefunden. Fördertöpfe ebenfalls. Außerdem wurden Bürgerbefragungen sowie -Infos abgehalten und in Kooperation mit der Energieberatung des Landkreises sogenannte Kellergespräche geführt – um auszuloten, welche Lösung für den jeweiligen Einzelfall die beste ist. Kurz: Die Hausaufgaben sind weitestgehend erledigt. Und jetzt? Geht’s um alles oder nichts: Kann die Reutlinger FairEnergie den Immobilienbesitzern Angebote unterbreiten, die sie überzeugen?
Gestern Nachmittag versuchte sie es in der Herzog-Ulrich-Halle einmal mehr: mit reichlich Personal-Power, im Beisein von Oberbürgermeister Thomas Keck, einem Vertreter der landkreiseigenen Klimaschutzagentur und weiten Teilen der Dorfgemeinschaft.
Reichlich Personal-Power
Was Letztere betrifft, stand sie der Nahwärme-Option lange Zeit aufgeschlossen und zweckoptimistisch gegenüber. Als dann jedoch Kostenberechnungen für die kollektive Abkehr von fossilen Brennstoffen auf den Tisch kamen, bewegte sich die Begeisterung mit Rasanz dorthin, wo zuvor Expertengespräche stattgefunden hatten: in den Keller.
Die Stimmung kippte. Weshalb es jetzt durchaus als Sympathiebekundung gewertet werden darf, dass trotz erheblicher Skepsis abermals 130 Reichenecker der Einladung des Reutlinger Energie-Versorgers gefolgt sind, um sich über Kosten und Nutzen des Nahwärmeprojekts informieren zu lassen: vom aktuellen Heizkostenvergleich über Fördermöglichkeiten bis hin zu Antworten auf Bürgerfragen.
Es ist 16.30 Uhr. Die Temperatur hat die 30-Grad-Marke überschritten. Die Luft in der Halle steht, das Publikum sitzt. Abkühlung wäre wünschenswert, aber die Nahwärme hat Vorrang. Bezirksbürgermeister Ulrich Altmann greift zum Mikrofon, grüßt und spricht davon, dass in der jüngeren Vergangenheit bei Preisdiskussionen unter privaten Häuslesbesitzern oft »Äpfel mit Birnen verglichen wurden«. Er betont »die Notwendigkeit der Energiewende« und bezeichnet Reicheneck als »Sonderfall« – weil es als einziger Reutlinger Teilort nicht ans Gasnetz der FairEnergie angeschlossen ist.
Dann übergibt er an Stadtwerke-Chef Jens Balcerek, der sich als »Riesen-Fan des zukunftsweisenden Reichenecker Projekts« outet und die Zuhörerschaft wissen lässt, dass die Fair-Energie eigens fürs Reichenecker Nahwärmenetz eine Tochtergesellschaft gegründet hat, an der sich – ähnlich einer Genossenschaft – interessierte Bürger beteiligen können.
Und OB Keck? Der lässt keinen Zweifel daran, dass für die gesamte Großstadt Reutlingen die Metamorphose des kleinen Reicheneck vom Ölheizungs- zum Öko-Dorf wichtig ist: weil ein tätiges Bekenntnis der 900 Einwohner zählenden Nordraumgemeinde zur Energiewende die Klimabilanz der Achalmstadt insgesamt verbessern würde und für andere Kommunen Vorbildcharakter haben könnte.
Die Reichenecker Pläne, so Keck, »sind ein wichtiger Baustein und Teil unserer Energiewendestrategie«. Weiter gibt er zu bedenken, dass sich »früher oder später« – als Deadline gemeint ist das Jahr 2045 – schließlich alle Immobilienbesitzer von fossilen Brennstoffen verabschieden müssen. Dann indes womöglich ohne staatliche Förderung, auf die Simon Hummler vom Projektmanagement der Reutlinger Klimaschutzagentur zu sprechen kommt.
Tochtergesellschaft gegründet
In der Regel, sagt er, könnten umstiegswillige Reichenecker Stand heute 50 Prozent Förderung erhalten, wenn sie sich für die von der FairEnergie angestrebte »moderne, ökologische Lösung« entscheiden: »für eine hybride Energieerzeugung aus Photovoltaik und Holzhackschnitzel mit Wärmepumpe, Spitzenlastkessel, Warmwasserspeicher und Leckage-Überwachung«. Hierfür, so Hummler weiter, müsse die FairEnergie »15 Millionen Invest tätigen«. Was das Unternehmen indes nur unter der Bedingung zu tun bereit sei, wenn sich in Reicheneck ausreichend Pilothaushalte – es müssten satte 70 Prozent sein – finden, die sich von Anbeginn ans Netz anschließen lassen.
Ob das funktionieren wird? Bei der Bürger-Info wagt das mancher zu bezweifel – obschon Musterhaus-Kalkulationen im 30-Jahres-Vollkosten-Vergleich nahelegen, dass Heizen mit Öl, weil »die teuerste Lösung«, sowohl ökologisch als auch finanziell keine gute Idee ist, dass sich Nahwärme, Pellet-Heizung und Wärmepumpe auf ähnlichem Preisniveau bewegen, Nahwärme, die zu hundert Prozent auf regenerativer Energie beruht, jedoch mit hoher Preisstabilität punktet.
Zweifel zerstreut? Teils, teils, verlautet aus den Zuhörerreihen. Weshalb es fürs Vorhaben fraglos wichtig und richtig ist, dass von FairEnergie und Klimaschutzagentur ab sofort eine weitere individuelle Beratungsstaffel angeboten wird. Obschon die Zeit drängt. Denn staatliche Förderquellen versiegen irgendwann. Sie warten nicht auf Reicheneck. (GEA)