REUTLINGEN. Vorsichtig öffnet Walter Mollenkopf die Türe, die aufs Dach der ehemaligen Hauptpost in der Eberhardstraße führt. Langsam, ohne hastige Bewegungen tritt er hinaus und dazu pfeift er laut in alle Richtungen. In der Hand hält er eine Blechdose, befüllt mit Brieftaubenfutter »Racing Pigeon Feed«, mit dem er die Tauben anlockt. »Es ist jeden Tag ein Lotteriespiel, wie viele Tauben da sind«, sagt Mollenkopf. An dem Morgen, an dem der GEA zu einem Vor-Ort-Termin vorbeischauen darf, zeigen sich die Tiere eher medienscheu. Nur etwa 20 erscheinen zur morgendlichen Fütterung. »Manchmal sind es bis zu 80 Tauben, die kommen«, berichtet Walter Mollenkopf, der im Sommer 2024 den Posten des Taubenwarts übernommen hat - für jenen Schwarm, der jahrelang unter der Eisenbahnbrücke hauste.
Das Dasein der Tauben mitten in der Stadt unter der Brücke hat über Jahre hinweg für viele Klagen gesorgt. Anwohner, benachbarte Gastronomen, Betriebe und eine Kultureinrichtung haben unter den Tieren und ihren Hinterlassenschaften gelitten. Überall lag Taubenkot, unter der Brücke konnte man nicht hindurchgehen ohne die ständige Angst, getroffen zu werden, die Stadt kam mit der Reinigung kaum hinterher. »Das hat überhand genommen«, blickt Ordnungsamtsleiter Albert Keppler zurück, »wir mussten etwas machen.« Dabei wollte man den Tieren keineswegs ans Leben, betont Keppler. »Wir haben nichts gegen Tauben«. Doch es war an der Zeit, die Population in den Griff zu bekommen und die Geburtenrate der Vögel abzusenken. Mindestens 300 Tauben besiedelten das Gebiet unter der Brücke, manche Schätzungen gingen sogar von bis zu 400 Tieren aus.
Dazu war es aber zunächst notwendig, den Schwarm umzusiedeln. Das erwies sich jedoch als gar nicht so einfach, sondern wurde zu einem Drama in mehreren Akten und zog sich hin. Bereits 2022 hatte der Gemeinderat die Vergrämung offiziell beschlossen - es passierte aber zunächst ein Jahr fast nichts. Nägel und Spikes wurden installiert, brachten aber nicht das erhoffte Ergebnis: Die Tauben ließen sich nicht stören, brüteten und lebten weiterhin unter der Brücke.
2023 wurde dann, nach einem erneuten Beschluss, ein Stahlnetz an der Brücke angebracht. Nach nur einem Tag musste die Feuerwehr es entfernen, weil Tauben darunter gefangen waren. Tierschützer protestierten, warfen der Stadt vor, die Umsiedlung nicht gut genug geplant zu haben. Im März 2024 dann der nächste Versuch: Erneut wurde ein Netz angebracht, das wenig später einem Sabotageakt von Taubenfreunden zum Opfer fiel. Videos und Bilder von verendeten Tauben tauchten im Internet auf, es gab Mahnwachen und Demos.
Dabei hatte die Stadt zu diesem Zeitpunkt bereits ein neues Domizil für die Tauben errichtet. Auf dem Dach der Briefpost, das Gebäude ist im Eigentum der GWG, wurde ein Taubenhaus aufgebaut, versehen mit einer Unterkonstruktion und ausgestattet mit mehreren Öffnungen, die für Lüftung sorgen. Wichtig war, dass das Taubenhaus nicht allzu weit entfernt ist vom bisherigen Standort der Tauben. Zudem unterstützten sowohl die GWG als auch Schöller SI das Vorhaben finanziell, »darüber waren wir sehr glücklich«, hebt Keppler hervor, denn die Kosten lagen bei rund 55.000 Euro.
»Wir waren der Überzeugung, die Tauben kommen mit wehenden Fahnen, aber das war nicht so«
Im Inneren des Hauses befinden sich ausreichend Nistplätze, zudem erhalten die Tiere in kleineren Mengen artgerechte Nahrung und es wird regelmäßig geputzt. Also ein wahres Taubenparadies, könnte man meinen. Statt beschwerlicher Nahrungssuche auf den Straßen der Stadt wartet hier ein Hotel mit Frühstück auf die Tiere. »Wir waren der Überzeugung, die Tauben kommen mit wehenden Fahnen«, erklärt Albert Keppler, »aber das war nicht so«. Die Vögel harrten weiterhin dicht an dicht unter der Brücke aus, irrten verloren über die Straße und saßen auf angrenzenden Dächern oder Geländern.
Im Juni 2024 fragte die Stadt schließlich Walter Mollenkopf an, ob er nicht helfen könne, die Tiere an ihr neues Zuhause zu gewöhnen. Mollenkopf züchtet seit Jahrzehnten Tauben, bereits als kleiner Junge ist er dem Charme der Tiere erlegen, es sei wie ein Virus, das einen nicht mehr loslasse, sagt er. Doch auch ihm blieb der schnelle Erfolg verwehrt: Versuche, die Stadttauben durch drei Zuchttaubenpärchen, die als Lockvögel dienten, zu ködern, schlugen fehl.
»Tauben sind unheimlich standorttreu«, weiß der Experte. »Ich musste erst einmal daran arbeiten, dass der neue Standort bekannt wird unter den Tauben und dass er von ihnen angenommen wird.« Fast täglich steigt Mollenkopf seit nunmehr neun Monaten die vielen Etagen nach oben, um die Tiere zu besuchen und sie sesshaft zu machen. »Sie müssen Vertrauen zu einem aufbauen«, erklärt er. Er müsse eine Beziehung zu ihnen herstellen.
»Ich musste erst einmal daran arbeiten, dass der neue Standort bekannt wird unter den Tauben«
Dank des täglichen Fütterungsrituals erkennen ihn die Tiere, und langsam nehmen sie ihre neue Heimat an. Zumindest ein Teil von ihnen. Einige, weiß Mollenhaupt, trauern nach wie vor um ihr Domizil unter der Eisenbahnbrücke, weigern sich, umzuziehen. Sie werden wohl bis an ihr Lebensende auf der Straße leben müssen. Andere hingegen erkennen langsam die Vorzüge des Taubenhauses. Hier können sie gefahrlos brüten, und dank des täglichen Taubenfutters müssen sie nicht mehr um jeden herabfallenden Krümel kämpfen. Die größte Gefahr droht von Falken und Habichten, die auf Beutezug über der Stadt kreisen, aber das gehört zum natürlichen Kreislauf dazu.
»Eine taubenfreie Stadt ist nicht möglich, das haben wir auch nie angestrebt«
Diese Woche stellte sich übrigens der erste große Erfolg bei der Umsiedlung ein: Ein Taubenpärchen brütet seit Sonntag im Taubenhaus, für den Nachwuchs wird dies dann künftig die Heimat sein. Folgen mehr Tauben diesem Beispiel, wovon Keppler und Mollenkopf fest ausgehen, kann der eigentliche Plan umgesetzt werden: die Geburtenkontrolle und die damit verbundene Reduktion des Taubenbestands. Teile der Gelege werden dazu durch Gipseier ersetzt. Die Tauben investieren ihre Energie in die Brutpflege, ohne dass sich der Bestand vermehrt. »Das ist unblutig und ungiftig«, betont Keppler. Am Taubenhaus auf dem Rathaus kann man sehen, wie erfolgreich diese Methode ist: Hatte der Schwarm einst 250 Tiere, sind es jetzt noch 100.

Eine ähnliche Quote strebt man auch für die Gegend rund um den Bahnhof an. »Eine taubenfreie Stadt ist nicht möglich,« so Keppler, »das haben wir auch nie angestrebt«. Allerdings muss die Zahl der Tauben ein erträgliches Maß haben - dann können Mensch und Tier friedlich miteinander leben. (GEA)