REUTLINGEN. Hinter Dr. Gerhard Längle und seinem Team liegen zwei extrem anstrengende Wochen. Genau 14 Tage sind seit dem verheerenden Brand in einem Fachpflegeheim der Gemeindepsychiatrische Hilfen Reutlingen (GP.rt) in der Oberlinstraße vergangen, als sich der Geschäftsführer am heutigen Dienstag erneut den Fragen der Lokalpresse stellt. Deutschlandweit ging das Unglück, bei dem drei Menschen ihr Leben verloren, durch die Medien. Noch tragischer wurde das Ganze, als die Polizei am Folgetag bekannt gab, dass gegen eine Bewohnerin der betroffenen Wohngruppe wegen Mordverdachts ermittelt wird. Sie soll das Feuer in ihrem Zimmer absichtlich gelegt haben, so der Verdacht.
Die 57-jährige Frau wurde schwer verletzt, konnte sich aber selbst retten. Noch immer liegt sie nicht ansprechbar in einem Krankenhaus, sagt Polizeipressesprecherin Ramona Noller. Ein sogenannter Unterbringungsbefehl von Seiten der Staatsanwaltschaft wurde erlassen. »Doch den muss man ihr erst eröffnen. Und das geht nur, wenn die Gesundheit es zulässt«, so Noller. Die Ermittlungen dauern an. Noch kann man also nicht sagen, ob sich der Mordverdacht bestätigt oder ob sie schuldunfähig ist.
Apropos Mordverdacht: »Wir waren verwundert über den Begriff«, sagt Geschäftsführer Längle zwei Wochen nach dem Unglück. Rein formell, »im Sprachgebrauch der Juristen«, sei das sicher korrekt ausgedrückt. »Aber der Normalbürger stellt sich unter Mordversuch etwas anderes vor, eine gezielte, böswillige und heimtückische Tat. Und da würde ich ein großes Fragezeichen machen, ob das in unserem Fall zutrifft.«
»Der Normalbürger stellt sich unter einem Mordversuch etwas anderes vor«
Polizeisprecherin Andrea Kopp hatte diesbezüglich einige Tage zuvor im GEA-Gespräch erklärt: »Das Mordmerkmal, das hier zum Tragen kommt, ist die gemeingefährliche Tatbegehung. Das gemeingefährliche Mittel ist in diesem Fall die Brandlegung, da die Frau nicht mehr unter Kontrolle hatte, wie viele Menschen zu Schaden kommen können.«
So tragisch der Fall auch ist, eins betont Längle beim Pressegespräch am gestrigen Dienstag mehrfach: Die Brandschutz- und Sicherheitsmaßnahmen hätten wie geplant gegriffen, »sodass das Unglück nicht noch größer wurde«.
Damit meint er zum einen die Alarmierung der Mitarbeiter, denn diese sei reibungslos abgelaufen. Nur wenige Sekunden nach dem Auslösen des Alarms seien die Diensthabenden in der betroffenen Wohngruppe gestanden. »Es hat direkt lichterloh gebrannt, die Verrauchung war schon sehr stark«, so Längle. Die Mitarbeiter hätten es noch geschafft, einen Bewohner aus dem bereits stark verrauchten Wohnbereich zu retten.
Doch die anderen Bewohner seien »starr vor Schreck« dagesessen, berichtet Ronald Hensel, der fachliche Betriebsleiter der Einrichtung. »Es war den Mitarbeitern nicht mehr möglich, sie raus zu begleiten. Daran hätte auch ein lauter Alarm nichts geändert.« Zwei Menschen starben im Aufenthaltsraum, einer in seinem Zimmer mit halb geöffneter Türe. Zwei weitere Bewohner überlebten den Brand nahezu unbeschadet in ihren Zimmern, da die Türen geschlossen waren und kein Rauch durchdringen konnte.
Womit direkt das nächste Thema angerissen wäre, das einige Tage nach dem Brand durch viele Medien ging. Wie das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« zuerst berichtet hatte, war die Brandmeldeanlage im Reutlinger Fachpflegeheim auf lautlos eingestellt gewesen.
Was sich zunächst für den Otto-Normalbürger seltsam anhört, versuchen die Verantwortlichen am Dienstag im Pressegespräch schlüssig zu erklären. »Die Rauchmelder sind beim stillen Alarm alle untereinander vernetzt«, sagt Bernd Haustein, der kaufmännische Betriebsleiter der GP.rt. »Man konnte im Nachgang die Daten auslesen – das alles hat vorschriftsgemäß funktioniert.« Der Alarm ging an die Leitstelle der Feuerwehr, zudem an die mobilen Endgeräte der Mitarbeiter. Diese konnten sofort reagieren. In den Zimmern und Wohnräumen der Bewohner blieb es dagegen still.
»Uns scheint der Schutz durch einen stillen Alarm im Brandfall weiterhin deutlich besser«
Ob ein Alarm still oder laut ist, das sei »eine fachliche Frage«, die immer auch auf die Bewohner der Einrichtung abgestimmt sein müsse, sagt Haustein. Der fachliche Betriebsleiter Hensel erklärt’s anschaulich: »Nehmen Sie als Beispiel einen Menschen, der sich sein Leben lang verfolgt fühlt und denkt, dass ihm jemand nach dem Leben trachtet. Der tut sich natürlich schwer den Raum zu verlassen, wenn der laute Alarm los geht. Das passt ja dann komplett zu seinen Ängsten, die er schon lange hat.« Gerhard Längle ergänzt: »Die Dünnhäutigkeit gegenüber Außenreizen ist bei einigen Personen sehr ausgeprägt.« Da könne es auch sein, dass sich ein Bewohner beim Alarm nur die Ohren zuhalte, aber nicht flüchte.
Zusammengefasst könne man sagen: »Uns scheint der Schutz durch einen stillen Alarm weiterhin deutlich besser«, so Längle. Das Risiko, dass durch einen lauten Alarm Unruhe entstehe und »Menschen ihr geschütztes Zimmer verlassen und ins Brandgeschehen reingehen«, schätze man als zu groß ein. Es steht aber keineswegs fest, dass das für immer so bleibt: Alle fünf Jahre gebe es eine Brandschau vor Ort, sagt Christian Freisem, neben Gerhard Längle der zweite Geschäftsführer der GP.rt. Dabei könne man auch irgendwann zur Erkenntnis gelangen, dass ein lauter Alarm für die entsprechenden Bewohner besser sei.
Freisem erzählt, dass man noch in der Brandnacht eine »große Welle an Hilfsbereitschaft« erlebt habe, »nicht nur aus dem Umfeld der beiden Muttergesellschaften, sondern auch von anderen diakonischen und kirchlichen Trägern, und von befreundeten Unternehmen«. Das habe gut getan. Am Freitag habe es eine Trauerandacht für die Bewohner und die Mitarbeiter gegeben.
Die Bewohner der Nachbar-Wohngruppe leben nun wieder in ihren Zimmern. Die Renovierung der Brand-Wohnung werde wohl noch ein halbes Jahr dauern, heißt es. »Es ist den Mitarbeitern gelungen, eine größtmögliche Form der Normalität wieder herzustellen«, so der fachliche Betriebsleiter Hensel. (GEA)