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Aktuell NS-Widerstand

Mutige Menschen mit Reutlinger Wurzeln

Vor 80 Jahren wurden drei Mitglieder der Familie Schlotterbeck hingerichtet. Nur Sohn Friedrich entkam

Gertrud Lutz und Friedrich Schlotterbeck.  FOTOS: HESS/PRIVAT
Gertrud Lutz und Friedrich Schlotterbeck. FOTOS: HESS/PRIVAT
Gertrud Lutz und Friedrich Schlotterbeck. FOTOS: HESS/PRIVAT

REUTLINGEN. Am 30. November 1944 – heute vor 80 Jahren – wurden im KZ Dachau zehn Menschen auf Geheiß der Stuttgarter Gestapo hingerichtet. Ohne Gerichtsverfahren. Der »Widerstandsgruppe Schlotterbeck« wurde »Vorbereitung zum Hochverrat« vorgeworfen. Unter ihnen drei Menschen mit Reutlinger Geschichte: der Metallarbeiter Gotthilf Schlotterbeck (64), seine Frau Maria (59), geborene Kugel, aus Oferdingen und die in Reutlingen geborene Tochter Gertrud (34), verheiratete Lutz. Der jüngste Sohn Hermann Schlotterbeck (26) wurde am 22. April 1945 in Riedlingen von drei SS-Schergen erschossen. Einziger Überlebender der von 1908 bis 1911 in der Reutlinger Fizionstraße 47 lebenden Familie war der 1909 dort geborene Sohn Friedrich. Nachdem der zum Gestapo-Spitzel umgedrehte ehemalige Genosse Eugen Nesper (1913–1991) die Widerstands-Gruppe verraten hatte, floh er im Juli 1944 – gerade noch rechtzeitig – in die Schweiz.

Der in Bempflingen geborene Gotthilf Schlotterbeck arbeitete in der Strickmaschinenfabrik H. Stoll & Co. Da er »als Arbeiterführer auf der roten Liste stand und keine Arbeit fand, zog die Familie 1911 nach Esslingen und 1919 nach Stuttgart-Luginsland«, heißt es im Erinnerungsort »Hotel Silber« in Stuttgart. »Dort schloss sich der junge Frieder einem Kreis von mutigen Menschen aus dem Raum Stuttgart – meist Kommunisten – an, die seit 1933 unter größter Gefahr Widerstand gegen die Nazis leisteten.«

Mit Kleinkind verhaftet

Zum 100. Geburtstag von Emilie Gertrud Lutz (1910–1944), geborene Schlotterbeck, haben Günter Randecker und Michael Horlacher deren berührende und dokumentarisch bedeutende Briefe aus Gefängnissen und Konzentrationslagern mit Dokumenten und Fotos veröffentlicht. Unterstützt hat sie dabei Lutz’ Tochter Wilfriede Hess.

Nach der Volksschule in Untertürkheim begann Trudl Lutz 1925 eine Lehre, war Kontoristin und Stenotypistin in diversen Betrieben sowie ab 1932 bei der »Roten Hilfe« und KPD aktiv. Schon da wurde sie wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« inhaftiert. »Das Schlimmste ist für mich das Ungewisse«, schrieb sie ihren Eltern, »essen kann ich überhaupt nichts ...« Im Juli 1938 heiratete sie den Förster Walter Lutz. Am 2. August 1942 wurde Wilfriede Sonnhilde geboren, zwei Monate bevor deren Vater in Russland als Soldat starb. Ab Januar 1944 lebte Gertrud mit ihrem Baby bei der Familie des Bäckers Gustav Keller in Grabenstetten.

Im 10. Juni 1944 wurde sie erneut verhaftet, mit ihrem kleinen Mädchen. »Wie lange diese Maßnahme dauern wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Klein Wilfriede wurde mir am 10. Juni sofort genommen.« Vom 19. November stammt ihr letzter Brief an die »liebe gute Fam. Keller« samt deren Tochter Klärle und »meinem Schneckerle«: »(…) alles Reden u. Schreiben ist nutzlos. Gefangen ist gefangen u. da sieht sich die Welt anders an.«

Als KPD-Funktionär war Frieder Schlotterbeck (1909–1979) zu Hitlers Machtübernahme im Ausland, wurde 1933 bei einer Kontrolle aber verhaftet und verbrachte die Zeit bis 1943 unter brutalsten Bedingungen in Zuchthäusern und KZs. Anders als seine Familie, seine Verlobte Else Himmelheber sowie Freunde und NS-Gegner aus Stuttgart kam er mit dem Leben davon. Er kehrte 1945 nach Stuttgart zurück, war an der Gründung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) beteiligt, führte das Württembergische Rote Kreuz und die KPD an. Angefeindet als Kommunist, siedelte er 1948 mit seiner Frau und der Tochter seiner ermordeten Schwester nach Dresden über, wo er beim Aufbau eines besseren Deutschland helfen wollte. Ab 1945 publizierte er seine persönlichen Erlebnisse im Widerstand.

2009 wurde vor Gertrud Lutz’ letztem Wohnsitz in Degerloch ein »Stolperstein« verlegt. Hermann Schlotterbecks »Ehrengrab« auf dem Untertürkheimer Friedhof erinnert an die zehn im KZ Dachau ermordeten »Mitglieder der Widerstandsgruppe Schlotterbeck«. In Reutlingen erinnert jedoch bis heute nichts an Gertrud Lutz und ihre Eltern, die den Kampf gegen die Nazis mit dem Leben bezahlt haben. (dia)