REUTLINGEN/STUTTGART. Als Lena Müller am heutigen Morgen aufwacht und einen Blick in ihre Facebook-Timeline wirft, wird ihr bewusst: Das ist tatsächlich passiert heute Nacht. Du warst mittendrin in den größten Krawallen, die Stuttgart je erlebt hat. Lena Müller heißt eigentlich anders, sie möchte ihren Namen aus privaten Gründen aber nicht in der Zeitung lesen. Er ist der Redaktion jedoch bekannt.
Lena Müller hat in Tübingen studiert und viele Jahre dort gelebt, dann hat sie in Reutlingen gearbeitet und dort gelebt. Vor einigen Monaten ist sie schließlich aus beruflichen Gründen nach Stuttgart gezogen. Dort war sie gestern auch mit ihren Freundinnen unterwegs.
»Gegen 20 Uhr saßen wir auf einer Bank auf dem Schlossplatz und haben uns schon drüber unterhalten, dass echt mega viel los ist - auch auf Corona und Ansteckungsgefahr bezogen«, erzählt die 28- Jährige. Auch eine für Stuttgarter Verhältnisse große Polizeipräsenz sei ihnen da schon aufgefallen.
Dann ging die Gruppe in ein Gasthaus, das direkt am Schlossplatz liegt. »Irgendwann haben wir gemerkt, dass draußen mega viel Bewegung herrscht«, erinnert sich Müller. Das muss so gegen Mitternacht gewesen sein. »Auch immer mehr Polizei kam, das haben wir von drinnen gesehen.« Sie beschloss, nach draußen zu gehen und nach zwei ihrer Freundinnen zu schauen, die ebenfalls draußen waren, um zu rauchen. »Da standen schon viele Leute im Eingangsbereich des Lokals und haben die Situation beobachtet«, sagt Müller. Sie habe einen Mann gefragt, was denn da los sei. »Keine Ahnung, die drehen durch«, sei seine Antwort gewesen.
Die 28-Jährige sah einen Mannschaftswagen der Polizei, ein paar Meter neben sich. »Junge Männer standen im Halbkreis um den Wagen herum, haben auf das Auto eingetreten und es mit Dosen und Flaschen beworfen.« Es war laut, die Randalierer schrien, bestärkten sich gegenseitig, sagt Müller. Sie konnte nicht fassen, was sie da gerade sah - und ging einige Meter auf die Gruppe zu. Ziemlich leichtsinnig, wie sie am Tag danach rückblickend sagt. Andererseits dachte sie sich in diesem Moment: »Man muss doch was tun. Man kann doch nicht einfach dastehen.«
Ein junger Mann saß in der Nähe des Mannschaftswagens am Boden, seine Begleiterin sagte, er habe »eine drauf gekriegt«, erinnert sich Müller. »Das war alles so dynamisch.« Einer der Randalierer habe durch eine eingeschlagene Scheibe in das Innere des Polizeiwagens gefasst und eine Polizeikelle herausgeholt, mit der er dann weiter auf das Auto einschlug. »Andere sind drumrum gestanden und haben das mit ihrem Handy gefilmt.« Dann seien mehrere Polizeiwägen angefahren gekommen, die Randalierer seien geflüchtet.
Die 28-Jährige war völlig fassungslos und wollte nun zurück zu ihren Freundinnen ins Lokal. Dort hatte man mittlerweile als Schutzmaßnahme die Türen geschlossen, sie musste um Einlass bitten. Wie viele da randaliert haben? Und vor allem: Wer? Es fällt Müller schwer, darauf eine Antwort zu finden. »Mir hat sich vor allem dieses Polizeifahrzeug so sehr eingebrannt und dieser Mob drumrum, nicht so sehr einzelne Gesichter«, sagt sie. Hunderte Täter in eine Schublade zu stecken hält sie für falsch - »ich war ja auch nur an einem Ort, und das auch nur für zehn Minuten.« Zwei Dinge lassen die 28-Jährige nach der Krawall-Nacht von Stuttgart fassungslos zurück. »Es war unglaublich, wie hilflos man ist, wenn einem so ein Mob gegenüber steht. Und wie gewaltbereit Menschen sein können. Ohne jeden Anlass.« (GEA)