REUTLINGEN-MITTELSTADT. Wenn in diesem Sommer Tatjana Sabot ihren kleinen Supermarkt an der Mittelstädter Heerstraße schließt, dann liegt das schlichtweg daran, dass zu wenig Menschen bei ihr eingekauft haben. Als die junge Frau das Geschäft 2018 von ihrer Freundin Nadja übernimmt, womit aus Nadjas kleinem Supermarkt eben Tanjas kleiner Supermarkt wird, habe es an Kundschaft kaum gefehlt, erzählt die Ladeninhaberin. Mittlerweile sei es oft ziemlich leer bei ihr.
Etwa 150 Menschen kommen 2018 pro Tag zum Einkaufen. Während der Corona-Pandemie sei es auch noch gut gelaufen, aber ab dann ging's bergab mit den Kundenzahlen. »Es wurden immer weniger«, sagt die Mutter von zwei Kindern im Schulalter mit traurigem Gesicht. »Einige ältere Stammkunden sind verstorben«, bedauert sie, »und die anderen haben mir gesagt, sie würden woanders einkaufen. Da sei es billiger«.
Machtlos gegen Sonderangebote
Gegen Sonderangebote sowie Lockvogelschnäppchen der Discounter oder Großmärkte ist Tatjana machtlos gewesen. Sie nennt ein Beispiel, das jeder versteht: »Ich kaufe eine Tafel Schokolade für einen Euro - wie könnte ich die für 88 Cent im Sonderangebot verkaufen?« Überall kleben knallrote Preisschilder auf dem Warensortiment. Rote Sonderpreise zum Ausverkauf - so rot wie die Bilanzen. Dabei offenbart ein kleiner Rundgang, wie groß das Angebot ist. Eigentlich ist hier fast alles zu finden.
Ladenbesucher schreiten von den Ständern mit Postkarten direkt links hinter der Eingangstüre vorbei am Regal einer Kaffeerösterei hin zum »Fruchtzauber aus dem Glas« für Einmachköchinnen über »Candy Bear«, streifen kreative Papiere und Bürobedarf und sehen lange Regalreihen voller Konserven und frischem Obst und Gemüse in der Mitte. Sie könnten ebenso allerlei Zeitschriften erwerben, darunter auch originelle Titel wie das »Heldenheft Nummer 10«. An der Kasse versammeln sich schließlich Kleinigkeiten wie Flachmänner mit Hochprozentigem sowie »coole Anhänger für Schultasche, Etui, Fahrradschlüssel«. Vor allem aber ist der Ort mehr als nur ein Konsumtempel.
»Nehmen Sie neue Patienten?«, telefoniert Tatjana am Nachmittag für einen Paketfahrer, der des Deutschen nicht mächtig ist, aber dringend einen Zahnarzttermin benötigt. Ach ja, ihr Supermarkt ist auch Niederlassung von drei Paketversendern. Mit dem nächsten Kunden führt sie eine gemütliche Plauderei, bevor der Mann mit dem passenden Feuerzeug plus »Tschau Tanja, schönen Mittag« seiner Wege zieht. Der Markt ist eine Gelegenheit für ein Schwätzchen zwischendurch, wie es ihn heute immer seltener gibt. Mittendrin neben der Besitzerin auch ihre Freundin und Kollegin Yvonne Maywald, die ebenfalls ganz betroffen schaut. Im Rückblick bleibt ein unerfreuliches Ereignis haften.
Überfall mit Pistole
Anfang 2023 überfällt ein Mann in neongrüner Arbeitskleidung den Lebensmittelladen. An einem Donnerstag fordert der Verbrecher mit vorgehaltener Pistole »Gib Geld!«. Zunächst widersetzt sich Tatjana, rückt schließlich der Gewalt gehorchend einige hundert Euro heraus. Bis heute ist der Täter nicht gefasst. Auf dem Schaden ist sie sitzengeblieben. Kurz vor der Schließung hofft sie auf einen erfolgreichen Schlussverkauf. Der Mietvertrag läuft bis Ende Juni, dann wird dichtgemacht.
»Alles muss raus« bedeutet für beide Frauen das Ende eines wesentlichen Kapitels ihres Lebens. »Der Laden war mein Hobby. Ich bin jeden Tag gerne zur Arbeit gefahren«, bekennt Tatjana. Aber bei aller Freude »geht es einfach nicht mehr«. Miete und Nebenkosten sind zu hoch, um dauerhaft auf auskömmliche Einnahmen verzichten zu können. Der Niedergang dieses klassischen Tante-Emma-Ladens lässt sich auch an den Lieferungen nachvollziehen. »Früher habe ich zweimal pro Woche Ware gekriegt, jetzt einmal in zwei Wochen«. Währenddessen brummt das Geschäft bei den umliegenden Discountern und großen Supermärkten. (GEA)