REUTLINGEN/REGION. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat bei einer Tour durch den Landkreis am Donnerstagnachmittag bekräftigt, es sei ihm wichtig »zu erfahren, was die Menschen im Kreis Reutlingen bewegt«. Langweilig ist es ihm nicht geworden, Landrat Ulrich Fiedler begleitete den hohen Gast und versprach Einblick in Traditionen, eine einzigartige Kulturlandschaft, aber auch moderne Technologien und neue Konzepte. Der kurz vor der Fertigstellung stehende Windpark Magolsheim stand auf dem Programm, die Hohensteiner Hofkäserei mit bereits 40 Jahren Tradition sowie das Kreisklinikum Reutlingen auf dem Weg zu mehr Telemedizin.
Windpark Magolsheim
Die Kreisreise nahm ihren Anfang auf der Baustelle des Windparks Magolsheim. Der Windpark ist ein Meilenstein, im Juni soll die erste Anlage ans Netz gehen, das eigens gebaute Umspannwerk in Heroldstatt wird bis dahin fertig sein. Damit sind das die ersten neuen Windräder, die sich im Kreis seit gut 20 Jahren drehen werden, in Nachbarschaft zu den einzigen zwei Windparks im Kreis in Böttingen und Auingen – mittlerweile fast museumsreif, aber immer noch fleißig am Stromproduzieren. Vielleicht bald für die Produktion von grünem Wasserstoff, so Bürgermeister Mike Münzing.
Dass es nach so langer Zeit wieder geklappt hat mit der Windenergie, machte den Tag für Winfried Kretschmann zu »einem erfreulichen Termin, es geht voran«, urteilte der Landesvater über den Fortschritt beim »Megathema des Landes«. Das Landratsamt, Landrat Fiedler und Projektierer Schöller SI bekamen ihr Teil Lob ab: Während es früher sieben Jahre bis zu einer Genehmigung gebraucht habe, waren es hier dank guter Vorarbeit von Schöller-Projektleiter Johannes Wild und seinem Team und dem Einsatz des Landratsamts nur vier Monate. Rekordverdächtig und auf Neudeutsch ein Benchmark für kommende Projekte, an dem sich andere messen lassen müssten. Denn: »Wir haben einen Riesen-Nachholbedarf, aber der Landkreis ist jetzt auf einem guten Weg«.

Magolsheim ist für den Grünen eine Bestätigung seiner Politik. Deutschland gehe mit dem Ausstieg aus Kernkraft und fossiler Energie einen mutigen Weg. Und der müsse nun konsequent fortgesetzt werden. »Es ist klar, das geht nicht locker vom Hocker«, aber wer bei der ersten Schwierigkeit zurückzucke, könne international nicht mithalten. Schöller-Chef Willi Schöller, dessen Unternehmen auf der Alb 500 Millionen Euro in erneuerbare Energie steckt, davon 90 Millionen in Magolsheim, schlug mit Blick auf Risikobereitschaft in dieselbe Kerbe: »Das ist Deutschland, da kommen wir her, da wollen wir hin«.
Und es klappt ohne Proteste, ohne Bürgerinitiativen, sagte Bürgermeister Münzing mit einem Seitenhieb auf den jüngsten Streit im Gemeinderat St. Johann. Weil eben hier alle Beteiligten – Behörden, Projektierer, Kommunen – aber auch die Bürger frühzeitig mit ins Boot geholt worden seien. Erst beraten, dann handeln, lobte Kretschmann sogar Bedenkenträger. Die Landschaft auf der Alb ändere sich, »wir können die Windräder ja nicht in den Keller stellen«, so der Ministerpräsident. Ein Atommüllendlager im eigenen Landkreis wolle ja auch kaum einer. Und ohne Netzwerke und ohne die Bürgerschaft gehe es nicht.
Hofkäserei in Ödenwaldstetten
Auf der zweiten Etappe seiner Tour d’Alb besuchte Winfried Kretschmann die Hofkäserei der Familie Rauscher auf dem Heidäcker Hof in Ödenwaldstetten. Der Ministerpräsident hatte bereits am Windpark Magolsheim auf die Bedeutung von Netzwerken hingewiesen, auf Netzwerker stieß er auch in Hohenstein. Die Familie Rauscher stellt Käse aus Milch der eigenen Kühe und Alb-Büffel her, auch dank einiger Zuschüsse vom Land. Der Besuch von Kretschmann war eine Gelegenheit, die Früchte beziehungsweise den Käse vorzustellen.
Über den Verkauf der biozertifizierten Produkte im eigenen Hofladen gehen die Rauschers mittlerweile hinaus. Stellvertretend für die neue Kundenschaft war Küchenchef Stefan Thumsch zugegen. Er verarbeitet zunehmend Bioprodukte in der Kantine von Elring Klinger, mittlerweile sind 20 bis 30 Prozent des Einkaufsvolumens von 1,6 Millionen Euro bio und damit fast immer aus der Region, die Hofkäserei ist ein wichtiger Lieferant. Einfach war der Weg dahin nicht, bio kostet Geld, das an andere Stelle wieder eingespart werden muss: »Mein Chef ist CEO eines Großunternehmens und ich muss zu ihm zum Rapport.« »So etwas braucht Leute mit Leidenschaft«, sagte Kretschmann. Vernetzung sei – wie beim Windpark – das Geheimnis des Erfolgs. Wer da so alles in der Biosphäre zusammen schafft, beschrieb Tobias Brammer von der Geschäftsstelle des Biosphärengebiets in Münsingen. Und führte die Biosphärenlandwirte, das Bienenstromprojekt – Blühpflanzen statt Mais für Biogasanlagen –, das regionale Schlachthaus in Westerheim und die Marke »Albgemacht« an.
Kretschmann kostete den Ödenwaldstettener Büffelkäse: »Schmeckt«, urteilte er knapp. Und mit »Die Älbler können’s« mit Blick auf Käse und Strom verabschiedete er sich gen Reutlingen.
Kreiskliniken Reutlingen
In der Achalmstadt besuchte der Ministerpräsident das Kreisklinikum am Steinberg für »ein zukunftsweisendes Projekt«, wie Landrat Dr. Ulrich Fiedler das Telemedizin-Konzept »HeimDoc« vor rund 30 Gästen betitelte. Aufgrund eines Anteils von 41 Prozent an Fachärzten über 60 Jahren und fehlenden Kapazitäten der Krankenhäuser für die jährlich steigenden Notfälle im Landkreis »müssen Strukturen entstehen, die taugen«, so Fiedler.
Mit dem Pilotprojekt »HeimDoc« hat das Team um Jan Begenat, Leiter der ambulanten Medizin, und der ärztlichen Koordinatorin für ambulante Medizin, Dr. Zsusza Märkle, den »Televisitenturm« entworfen – ein auf Rädern mobiles Gerät mit zwei Bildschirmen, einer schwenkbaren Raumkamera und einem digitalen Stethoskop.
Insgesamt zehn Pflegeheime der Reutlinger Altenhilfe (RAH) und BruderhausDiakonie wurden in der 100-tägigen Pilotphase mit den Geräten ausgestattet. Die Fachärzte der Kliniken werden dann live in die Pflegestätten zugeschaltet und können die Beschwerden ihrer Patienten mit einer hochauflösenden Kamera begutachten. »Das erspart uns unnötige Transportfahrten, wenn wir erkennen, dass direkt vor Ort weitergeholfen werden kann«, erklärte Jan Begenat.

Wie genau der Austausch zwischen Fachpersonal und Patienten funktionieren kann, präsentierte Ärztin Kathrin Gänzle mit RAH-Bewohnerin Lisa Reuter. Gänzle konnte an ihrem Laptop die Kamera am Gerät im Pflegeheim bedienen und gleichzeitig Kontakt zum Personal am zweiten Bildschirm vor Ort aufnehmen.
Im Rahmen der Vorstellung führte das Team ein Elektrokardiogramm durch, dessen Ergebnisse sofort im Krankenhaus verfügbar waren und als Dateien abgespeichert werden konnten. »Es ist auch möglich, einen Ultraschall durchführen zu lassen und die Patienten abzuhören«, ergänzte Dr. Märkle.
Nach Abschluss der Vorstellung grüßte Kretschmann die 98-jährige Reuter, die erst kaum aus dem Stauen rauskam und sich dann mit einem »wunderbar, dass ich sie mal sehe« vom Ministerpräsidenten verabschiedete.
Kretschmann zeigte sich zum Ende seines Besuchs im Klinikum »absolut überzeugt« von der neuen Technologie. Ob das Projekt in Zukunft eine Entlastung für die Krankenhäuser in ganz Baden-Württemberg sein könne, müsse aber erst weiter erprobt werden.
Spontane Stippvisite im Reutlinger Rathaus
Zwischen zwei Stationen seiner Landkreistour am Donnerstag nahm sich Ministerpräsident Kretschmann die Zeit für einen Spontanbesuch im Reutlinger Rathaus. »Willkommen in der neuntgrößten Stadt Baden-Württembergs und mit Abstand größten Stadt im Landkreis, in der mehr als 40 Prozent aller Landkreisbewohnerinnen und -bewohner leben«, empfing Oberbürgermeister Thomas Keck den Landesvater. Der Ministerpräsident, der sich privat für die Werke des Reutlinger Künstlers HAP Grieshaber interessiert, nutzte die kurze Atempause im Foyer des Ratsgebäudes für einen ausgiebigen Blick auf Grieshabers »Sturmbock«.
Für das Kunstwerk, informierte der Oberbürgermeister seinen sichtlich beeindruckten Ehrengast aus der Landeshauptstadt, hat Reutlingens berühmtester Sohn Szenen der Stadtgeschichte in einen zwölf Meter langen Stamm eines Abachi geschnitten. Der Laubbaum stammt aus Reutlingens Partnerstadt Bouaké an der Elfenbeinküste. Das historische Vorbild für den Grieshaber-»Sturmbock« wurde 1547 aus der Marienkirche entfernt und fiel im September 1726 zusammen mit dem Renaissance-Rathaus, dessen Südseite es zierte, dem großen Stadtbrand zum Opfer. »Das ist schon etwas ganz Besonderes«, so Ministerpräsident Kretschmann, der von Staatsrätin Barbara Bosch und Landrat Dr. Ulrich Fiedler begleitet wurde. Nach dem Ausflug in Reutlingens Kulturhistorie blieb auch noch Zeit für den Austausch über aktuelle politische Herausforderungen. (GEA)