REUTLINGEN/TÜBINGEN. Relativ gefasst tritt die 42-jährige Mutter des Angeklagten in den Zeugenstand, auch wenn es »für sie ein schwieriger Moment ist«, wie der vorsitzende Richter Dirk Hornikel sagt. Ist ihr 18-jähriger Sohn schließlich wegen Volksverhetzung und versuchtem Mord angeklagt. Er soll einen 37-jährigen Amerikaner vor dem Jugendzentrum Zelle mit einem Messer lebensgefährlich verletzt haben. Wenige Tage zuvor hatte er auf dem Reutlinger Marktplatz ein Lied der verbotenen rechtsradikalen Band »Landser« gespielt und den Hitlergruß gezeigt. Die Taten räumte der Jugendliche an den vorherigen Verhandlungstagen teils ein, wenn auch einige Schilderungen von der Anklage abweichen.
Am dritten Verhandlungstag ging es nun vor allem um die »Gesinnung« des jungen Mannes, und wie diese zustande kam. Ihr Sohn sei schon immer schwierig gewesen, erzählt die Mutter. »Er tickte anders als die anderen Kinder, war früh schon auffällig.« Es gibt längere Aufenthalte in der Tagesklinik der Kinderpsychiatrie, er erhält Medikamente, aber nichts schlägt richtig an. Die Muter erzählt von möglichen Diagnosen wie Asperger oder Autimsus, Nerven, die nicht vollständig ausgebildet sind. Das Kind hat seine Emotionen nicht im Griff, es kommt immer wieder zu Ausbrüchen.
" Er musste immer so extrem sein, einen Mittelweg gab es nicht""
Auch unter der Trennung der Eltern, als der Junge vier Jahre alt ist, leidet er. Mit sechs beschließt er, zum Vater zu ziehen. Ein Plan, den die Mutter zunächst gutheißt, denn ihr Exmann ist in einem pädagogischen Beruf tätig. Doch die Auseinandersetzungen mit dem Vater nehmen zu, irgendwann quartiert der ihn aus, der Junge kommt in einer Wohngruppe unter. Gleichzeitig häufen sich in der Schule die Probleme: Nach der Grundschule bekommt er eine Schulbegleiterin, wechselt an eine sonderpädagogische Einrichtung – ohne großen Erfolg. Immer mehr bleibt er der Schule fern. In der Wohngruppe gibt es Stress, mit Erreichen der Volljährigkeit muss er sie verlassen. »Hing er rechtsextremem Gedankengut nach?«, will Richter Hornikel von der Mutter wissen. Die Zeugin atmet tief ein und beginnt zu erzählen. »Er hat schon immer versucht, seine Gruppe zu finden«, blickt sie zurück. Gut ein Jahr vor der Tat ist er noch »mit den Linken und Zecken der Zelle« unterwegs, so gibt die Mutter Worte des jungen Mannes wider. Als Punk mit Irokesen-Haarschnitt – er habe dort ein Mädchen kennengelernt, mit dem er sich gut verstanden habe, sei sogar zu Demos gegangen.
Zur Tatzeit, nur wenige Monate später, hat er sich plötzlich in einen Skinhead verwandelt – mit Glatze, Tarnhose und Bomberjacke. »Er musste immer so extrem sein, einen Mittelweg gab es nicht«, sagt sie. Politisch motviert sei dies aber nicht gewesen, ist sie überzeugt. Nach dem Auszug aus der Wohngruppe findet der Jugendliche ein Zimmer auf der Alb: Beim Vermieter vermutet die Mutter eine rechtsextreme Einstellung, die auf ihren Sohn übergeschwappt sei. Dieser habe sich um die Hunde des Mannes gekümmert, »die hießen Evi und Adolf – da habe ich eins und eins zusammengezählt«.
»Er ist auch ein ganz lieber, hilfsbereiter und einfühlsamer Mensch«
Aber dieser komplette Wechsel einer Überzeugung innerhalb von wenigen Tagen, »das konnte ich nicht ernst nehmen«. Dennoch komt es an Weihnachten zum Streit, zumal auch sie selbst einen Migrationshuntergrund habe. Das Verhältnis zu ihrem Sohn beschreibt sie trotzdem als sehr gut, auch die anderen Mitglied der Patchwork-Familie stehen sich nah. Ihr Sohn sei ein Chaot, ein Quatschkopf, »aber auch ein ganz lieber, hilfsbereiter und einfühlsamer Mensch«.
Kurz vor der Tat versucht er nach Kroatien auszuwandern, allerdings reicht das Geld nur für wenige Tage. Zurück in Reutlingen landet er auf der Straße, da sein Zimmer auf der Alb weg ist. Warum sie ihn nicht aufgenommen habe?, fragt der Richter. Zum einen wegen Platzmangel, »wir haben vier Zimmer für fünf Personen«, aber auch wegen der ständigen Probleme und Reibereien. »Es gab immer wieder Momente, da war mir das zu viel, der Dreck, die rechte Einstellung«. Zudem habe sie die jüngeren Kinder schützen müssen. Wirklich überrascht sei nicht gewesen nach den Taten. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis etwas passiert«.
Auch der Angeklagte sagt an diesem Morgen aus. Diesmal wegen der Anklage der Volksverhetzung. Stets, wenn er nach seiner Gesinnung befragt wird, druckst er herum. Warum er das auf dem Index stehende Lied »Sturmführer« laut auf dem Markplatz abgespielt habe?, will der Richter wissen, dieses sei schließlich starker Tobak. Ein Schulterzucken, »na, weil ich es gut fand, es war auf meinem Handy«. In dem Zeitraum habe es ihm gefallen, doch einiges, wie die Bezeichnung Bolschewik, kann er nicht erklären. Auch der Browserverlauf des Handys, den Richter Denis Fody verliest, legt nahe, dass die Gesinnung eher beliebig ist: Ob Skinhead, Reichsbürgerausweis oder Waffengesetze in Kroatien – viele Fragen stellte der junge Mann dem Internet in der Zeit rund um die Tat. Der Prozess wird am 7. März fortgesetzt. (GEA)