REUTLINGEN/PFULLINGEN/TÜBINGEN. Mit reichlich Verspätung begann am Mittwoch der Prozess gegen einen 30-jährigen Asylbewerber aus Afghanistan, der in Reutlingen einen Landsmann aus dem Fenster gestoßen und danach vergewaltigt haben soll. Das Opfer war nicht erschienen. Es sitzt zurzeit in Rottenburg im Knast, was die Schwurgerichtskammer des Tübinger Landgerichts nicht wusste. Dafür hörte das Gericht zahlreiche Zeuginnen des unglaublichen Geschehens. Der Angeklagte muss sich nicht nur deswegen, sondern auch wegen zwei weiterer Taten, die in Pfullingen geschehen sein sollen, vor Gericht verantworten.
Es gibt sogar Videoaufnahmen des Vorfalls am 6. November 2024 vor der Asylbewerberunterkunft in der Reutlinger Ringelbachstraße. Dort sind zahlreiche Überwachungskameras rund um das Gebäude installiert. Sie zeigen, wie das Opfer aus dem Fenster im ersten Obergeschoss auf einen gepflasterten Fußweg stürzt. Danach sieht man wie der Angeklagte aus dem Haus eilt, den schwer Verletzten hinterm Gebäude aufsammelt und ihn vor zur Straße trägt. Dort auf einem Grünstreifen vergeht er sich schließlich an dem Opfer. Die Bilder zeigen den nackten Angeklagten und später auch das unbekleidete Opfer, wie es von einem weiteren Mann zurück ins Gebäude geführt wird.
Frau schlug dem Täter ihre Handtasche auf den Rücken
Die mutmaßliche Vergewaltigung sieht man nicht auf den Bildern. Dafür gibt es aber eine Reihe von Zeuginnen, die das sexuelle Geschehen beobachteten und die am Mittwoch vor der Schwurgerichtskammer ihre ungewöhnlichen Erlebnisse schilderten.
Nicht weit von der Asylbewerberunterkunft befindet sich ein Pflegewohnheim. Eine Mitarbeiterin dort hatte gerade Schichtende und hielt sich kurz in der Raucherecke im Freien auf. Sie sah, wie der Angeklagte nackt auf seinem Opfer lag und »rhythmische Bewegungen wie beim Sex gemacht hat«. Sie ging zu den beiden Männern hin und schlug dem 30-Jährigen mit der Handtasche auf den Rücken, um ihm anzuzeigen, dass er aufhören solle, aber »der hat nicht reagiert«. Sie ist auch überzeugt, dass der Sex nicht einvernehmlich gewesen sei.
Zur selben Zeit kamen die Mitarbeiterinnen eines Kinderhauses von einem Laternenumzug mit ihren Kindern zurück. Auch sie bekamen das sexuelle Geschehen auf dem Grünstreifen mit. »Beide Männer waren komplett entkleidet«, meinte eine Erzieherin. Eine andere Zeugin sah, wie der eine Mann den anderen festgehalten und runtergedrückt hat. Beide seien nackt gewesen.
Täter filmte sein nacktes Opfer
Eine weitere Zeugin beobachtete, wie der eine Mann, wahrscheinlich der Angeklagte, den anderen, der nackt war, filmte und danach mit ihm den Geschlechtsakt ausführte. Auch sie rief laut: »Hört auf, lasst das bleiben.« Doch der Mann habe nicht aufgehört, sondern in ihre Richtung Bewegungen gemacht, die aussahen wie »was wollt ihr denn überhaupt«.
Der vorsitzende Richter Armin Ernst verlas am Mittwoch zudem Gutachten des Landeskriminalamts. Auch sie lassen keinen Zweifel an dem sexuellen Geschehen. So wurden auf dem Körper des Opfers Spermaspuren des Angeklagten entdeckt. Auch existieren Blutflecken an mehreren Kleidungsstücken, die eindeutig vom Opfer stammen.
Dass es diese Spuren gibt, ist nicht verwunderlich. Das Opfer lag nach dem Sturz aus sieben Metern Höhe lebensgefährlich verletzt auf dem Boden. Es hatte Brüche am ganzen Körper und einen Leberriss erlitten. Wochen später hatte das Opfer einem Mitbewohner gesagt, »er hat mich aus dem Fenster geworfen«.
Die ganzen Zeugenaussagen deuten deutlich auf eine Vergewaltigung hin. Außerdem war das Opfer so stark verletzt worden - es schrie offenbar vor Schmerzen und überlebte nur durch eine Notoperation -, dass es in diesem Zustand sicher keinen Sex wollte.
Zwei Zeugen sitzen in Haft
Für den Sturz aus dem Fenster gibt es bisher keine Zeugen. Auf den Videoaufnahmen sind nur die Umrisse einer Person zu sehen, die nach unten fällt. Das Opfer selbst könnte dazu mehr sagen. Doch am Mittwoch wartete das Schwurgericht über eine Stunde vergeblich auf den Mann, wie auch auf einen weiteren Zeugen aus dem Asylbewerberheim. Beide sitzen zurzeit in Rottenburg in Haft. Das Gericht war darüber nicht informiert worden. Und auf die Schnelle konnte die Haftanstalt keinen Transportwagen für die zwei Häftlinge organisieren.
Im Gerichtssaal
Schwurgericht: Armin Ernst (Vorsitzender Richter), Julia Merkle, Benjamin Meyer-Kuschmierz. Schöffen: Cigdem Schaich, Georg Krug. Staatsanwalt: Dr. Florian Fauser. Verteidgung: Maria Tunc. Rechtsmedizin: Dr. Melanie Hohner. Psychiatrischer Sachverständiger: Dr. Thomas Ethofer.
Beide Männer sollen nun am kommenden Montag vor Gericht aussagen. Dann wird auch die Tübinger Rechtsmedizinerin Dr. Melanie Hohner die schweren Verletzungen des Opfers beschreiben. Sie wird möglicherweise auch Angaben zur Alkoholisierung und Drogenintoxikation des Täters machen können. (GEA)

