REUTLINGEN. Sind wir nicht alle ein bisschen Manga? Aber sicher. Wer schaute schließlich einst nicht gern »Heidi« und »Biene Maja« im Fernsehen? Solche Zeichentrickserien heißen heute zwar »Anime«, basieren aber großteils auf Mangas. Auch wenn der italienische Comic-Autor Igort den Begriff auf den großen Holzschneider Katsushika Hokusai (1760–1849) zurückführt, ist »Manga« letztlich einfach Japanisch für Comic. Weltweit sind damit die japanischen, stets schwarz-weißen und von hinten nach vorn sowie von rechts nach links zu lesenden Bildergeschichten um menschliche, tierische und fantastische Helden und Heldinnen gemeint. Mit riesigen Augen und Stupsnase.
»Mangas geben uns Träume, sie motivieren, und sind uns ein Vorbild«, erklärt Taito Yoshino, der Gründer des einzigen österreichischen Manga-Verlags Manga Jam Session deren Faszination. »Auch in Zeiten der Verzweiflung lassen sie uns nicht allein und spenden Trost und Verständnis.« Die Manga-Begeisterung wächst. Das zeigt sich auch in Reutlinger Geschäften, wo aktuell – wie in Buchläden und Comic-Stores ganz Deutschland – die Vorbereitungen auf den 3. Manga-Tag am Samstag laufen.
Die Osiandersche Buchhandlung begann schon vor Wochen mit einem eigens dafür ausgeschriebenen Malwettbewerb. Die große Reutlinger Filiale des 1596 in Tübingen gegründeten Unternehmens verfügt seit Jahren über eine gut sortierte Comic-Abteilung. In der nehmen Mangas inzwischen den meisten Platz ein, mehr als im Metzinger, aber auch Tübinger Osiander, die aber beide wie die Pfullinger Buchhandlung am Laiblinsplatz ebenfalls am Aktionstag mitmachen. Der Rücklauf zum Zeichenwettbewerb ist Maja Fink zufolge »großartig«. Sowohl was die Teilnehmerzahl als auch die Qualität angeht.
Da Osiander schon beim ersten »Manga Day« vor zwei Jahren dabei war, weiß die fürs Manga-Sortiment in Reutlingen verantwortliche Mitarbeiterin, was am 21. September auf sie zukommt: Der Laden wird brummen, und zwar vom Moment an, wo sich die Türen in der Wilhelm- und Kanzleistraße öffnen. »Wir müssen da immer ein bisschen aufpassen, dass nicht alle Gratis-Exemplare schon am Vormittag weg sind.« Dazu werden Postkarten und Sticker verschenkt. Schon seit Dienstag bewahrt die 30-Jährige Kärtchen für ein Rallye-Spiel des Carlsen-Verlags in einer Schublade auf. Die werden für Samstag in der Abteilung versteckt. Wer sie und das Lösungswort findet, wird mit einem Poster belohnt.
Manga-Fans geben auch für Sondereditionen und Merchandise Geld aus
Der Manga-Bereich wachse stetig, sagt die Buchhändlerin, die selbst mit 14 oder 15 Jahren die schmalen Bände regelrecht verschlang. Denn Bildergeschichten lassen sich auch lesen, wenn für ernsthafte Literatur die Konzentration fehlt. Und es sei leichter, in Mangas einzusteigen, als in Comic-Serien von Marvel oder DC. Die größte Zielgruppe beim Reutlinger Osiander sind 13- bis 16-Jährige. Für Jüngere empfiehlt die 30-Jährige den Klassiker »Dragon Ball« oder die Reihe »Naruto«, die Stiftung Lesen nennt als Manga-Tag- Tipp schon für Sechsjährige Abenteuer des blauen Knuddelaliens »Stitch«.
Die älteste Stammkundin des vor 28 Jahren zunächst als reines Videospielgeschäft gegründeten Manga- und Anime-Spezialisten Maro ist um die 70 Jahre alt. Ansonsten besteht die Klientel des Geschäfts im Fischbachhaus, Karlstraße 1, aus 13- bis 50-Jährigen, sagt dessen Inhaber Sascha Dura – männlich wie weiblich. War anfangs, um das Jahr 2000, das Publikum für ins Deutsche übertragene Mangas wie »Sailor Moon« noch »eher nischig«, erreichen sie heute alle Altersklassen und Gesellschaftsschichten.
Obwohl man Mangas wie Comics auch online lesen kann, habe sich Gedrucktes in dieser Sparte ungewöhnlich gut gehalten, beobachtet der 49-Jährige. »Auch bei Jugendlichen.« Überhaupt seien Manga-Fans außerordentlich treu. Preislich rangieren die Softcover-Bände zwischen 7 und 10 Euro, als Einführungspreis auch mal nur 5 Euro. Sammler-Stücke können die 30-Euro-Grenze überschreiten. »Manga-Fans geben auch für Sondereditionen und Merchandise gern Geld aus«, sagt Dura. »Die leben das richtig.« Sogenannte »Cosplayer« kommen auch mal als ihre Lieblings-Charaktere verkleidet in seinen Laden. »Toll, wie viel Mühe die in die oft selbst genähten und gebastelten Verkleidungen stecken«, findet der Maro-Chef.
150 bis 200 Neuerscheinungen pro Monat bieten die von ihm vertriebenen Verlage. »Die Neustarts haben wir immer da.« Nur, wenn eine Serie gar nicht läuft, lässt er den Vorrat wieder auslaufen. Im Reutlinger Osiander kommen monatlich etwa 50 Neuerscheinungen hinzu.
Elf Verlagshäuser beteiligen sich an der diesjährigen Aktion
»Das Spektrum erweitert sich stetig«, berichtet Maja Fink, über neue Verlage und neue Labels etablierter Verlage. Filip Kolek, dem Pressesprecher des Manga Day 2024, zufolge ist der Manga-Markt im deutschsprachigen Raum geprägt von größeren Konzernverlagen wie Egmont und Carlsen sowie internationalen Medienunternehmen wie Crunchyroll (ehemals Kaze). Dazu kämen mittelgroße, schnell wachsende Verlage wie Cross-Cult-Ableger Manga Cult aus Ludwigsburg – mit »Demon Slayer«, »A Man and his Cat« und dem gerade angesagten »Die Tagebücher der Apothekerin« – oder Altraverse. Neben berühmten japanischen Manga-Autoren und Zeichnern unterstützt der auch Deutschlands aktive, kreative Mangaka-Szene. Caroline »Racami« Tent etwa zeichnet ihre Geschichten im japanischen Stil. Beim Manga-Tag ist die hessische Illustratorin mit »Der Fluch des purpurnen Rauches« vertreten.
Beteiligt am Aktionstag sind zudem Tokyopop, Panini aus Stuttgart (»Pokémon«), der Kinderbuchverlag Loewe und der für Bastelbücher bekannte Topp.
Auch Taito Yoshino macht erstmals beim Manga Day mit, um seinen noch recht neuen Verlag vorzustellen. Über die größte verlagsübergreifende Kooperationen in der deutschsprachigen Buchbranche hofft der Manga-Jam-Session-Begründer, mehr Fans »Fabiniku« näherzubringen – eine in Japan beliebte Isekai-Comedy-Reihe, die 2022 eine Anime-Adaption erhielt.
Der kleine Independent-Verlag Manlin vertritt das chinesische Pendant von Manga: Manhua. Die können auch farbig sein und lassen sich zum Teil wie europäische Bücher lesen. Für Maja Fink ist Manlin wichtig, da sich der mit »The King’s Avatar« eine große Serie sicherte, zu der es bereits eine Anime- und Real-Verfilmung gibt.
Zu Maro kommen Fans fast aller Stilrichtungen. Die Sparten »Girls Love« und »Boys Love« lesen nicht zuletzt Frauen gern, berichtet Sascha Dura. Der auch für Laufkundschaft gut erreichbare Shop des Japan-Fans zwischen Bahnhof und ZOB bietet außer Mangas, Comics und Games auch Schleck sowie Getränke. Doch seit Anfang der Woche sind der 49-Jährige und sein Team im Vorbereitungsmodus für jenen Tag, der Einsteigern ein niedrigschwelliges Angebot und Fans eine Plattform zum Austausch bieten soll.
»Bei uns laufen vor allem Action-Serien und Fantasy«, erklärt Osiander-Manga-Fachfrau Fink: »Chainsaw Man«, »Jujutsu« oder »One Piece«, eine Piratenreihe, die mit Band 106 gerade zu einem weiteren großen Handlungsbogen aushole. Dazu sogenannte »Slice of Life«-Mangas wie »Insomniacs after School«, bei denen es um »Freundschaft und Romance« im Schüleralltag geht.
Stadtbibliothek lädt zum Manga-Workshop
»Insgesamt ist das Manga-Segment in Bezug auf die Inhalte und Protagonisten, was Lebensführung, Geschlechtsidentität und dergleichen angeht, sehr divers«, findet Stephanie Zaiser, Sachgebietsleiterin Jugendbibliothek der Stadtbibliothek Reutlingen, die letztes Jahr ebenfalls am Manga-Tag beteiligt war. Im Jugendbereich hält die aktuell »einen relativ großen Mangabestand von zirka 900 Titeln« vor, und für Erwachsene etwa 70 Titel. Seit 2022 bestehe vor allem bei jungen Erwachsenen vermehrt Nachfrage nach Mangas.
»Insgesamt merken wir, dass die asiatische Popkultur vor allem bei jungen Mädchen aktuell im Trend liegt. Unsere K-Pop und J-Pop Musik-CDs sind gut nachgefragt, ebenso wie Bücher zu den Bands«, erklärt die Mitarbeiterin, die in der Hauptstelle mit einer Kollegin für die Auswahl der Mangas zuständig ist. Diesmal pausiere die Stadtbibliothek bei der Verteilung von Gratis-Mangas, denn vergangenes Jahr blieb die Beteiligung laut Zaiser hinter den Erwartungen zurück. Dafür gibt es dort am Samstag, 21. September, zwei Manga-Workshops für Jugendliche zwischen 10 und 16 Jahren. (GEA)
Manga-Szene: Die am schnellsten wachsende Sparte im Buchbereich
Mangas bilden die am schnellsten wachsende Sparte des Buchmarkts. Fast zwei Drittel aller Umsätze im Comicsegment haben Handel und Verlagswelt den japanischen Comics zu verdanken. Manga-Day-Sprecher Filip Kolek findet das umso bemerkenswerter, als diese in der Kulturberichterstattung kaum vorkommen. Wenn sich Kinder nicht fürs Lesen begeistern, können Mangas helfen, schreibt die Stiftung Lesen. Dazu entstand eine Szene, die auch andere Popkultur-Aspekte umfasst: J-Pop, Cosplay, Manga-Messen, Japan-Fanseiten, Anime-Streamingdienste. Zum Manga-Tag am 21. September verschenken elf Verlage 800.000 extra produzierte Taschenbücher samt Manga-Zeichenkurs. (dia)